Kapitel 57

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„Oh Leyla, da bist du ja endlich“, kaum, dass ich mit den Fußspitzen den hellen Mamorboden berührte, zog mich Selena fest an sich.
„Ich hatte mir solche Sorgen gemacht. Du bist abgestürzt in das Meer und ich konnte dir nicht hinterher. Der Wind ist zu stürmisch gewesen. Bitte verzeih mir, dass ich nicht helfen konnte! Ich war so sehr in Sorge um dich. Geht es dir gut? Wo bist du gewesen? Was ist passiert? Du siehst dünn aus“, meiner Schwester traten die Tränen in ihre blauen Augen, als sie mich ausgiebig musterte.
„Mir geht es bestens“, beteuerte ich leise und schob sie behutsam von mir weg. Ihre Sorge und Führsorglichkeit waren angenehm, es erinnerte mich so sehr an früher. Selena hatte sich schon immer um mich gesorgt und gekümmert, immer wenn unser Vater mich links liegen ließ. Doch durch ihren Tod, ihr Verschwinden war ich dazu gezwungen worden mich selbst um alles zu kümmern und mich alleine gegen unseren Vater zu behaupten. Selena schien noch gar nicht zu sehen, dass ich nicht mehr das kleine Mädchen von damals war. Ich war Erwachsen geworden. Ich hatte gelernt alleine zurechtzukommen und mir selbst zu helfen. Und wenn ich mir nicht selbst helfen konnte, so war Chris stets an meiner Seite gewesen.
Er fehlte mir so sehr, niemandem vertraute ich so sehr wie ihm, er war mein Bruder, mein bester Freund. Ihm vertraute ich alles von mir an, vor ihm hatte ich keine Geheimnisse. Er kannte mich besser, als jeder andere, besser als meine eigene Schwester!
Anders herum war es genauso. Chris konnte mit Allem zu mir kommen und das wusste er.

„Sicher? Ich sehe es doch in deinen Augen, dass mit dir etwas nicht stimmt. Ist es wegen Thranduil?“, fragte sie weiter und ließ mich langsam los. Eönwë war bereits an uns vorbeigegangen, den hohen weiß bekleideten Flur entlang auf ein gigantisches Holztor zu. Flankiert wurde es von zwei Soldaten, die reglos Spalier standen und nicht einmal mit der Wimper zuckten, als Eönwë sie passierte.

„Nein ist es nicht“, murmelte ich leise, schob meine Schwester sanft zur Seite und folgte Eönwë.
Natürlich war es auch wegen Thranduil! Ich liebte und vermisste ihn. Es gab selten einen Moment in dem ich nicht an ihn dachte und mich fragte, ob er mich auch so sehr vermisste, wie ich ihn. Von Zeit zu Zeit ertappte ich mich selbst dabei, wie ich mir wünschte doch wieder ganz normal zu sein, so hätte ich bei Thranduil sein können. Ich wäre nicht gezwungen hier zu verweilen und mich wichtiger Verpflichtungen zu widmen, die ich mit Sicherheit nicht freiwillig erwählt hätte.
Schlimmer, als ich es jemals erahnt hätte, quälte mich die Distanz zu Thranduil, schlimmer noch als damals, als er verschwand. Damals war Chris an meiner Seite gewesen und war mein Fels in der Brandung. Jetzt war er ebenfalls im Düsterwald, getrennt von mir. Selena war kein Ersatz für ihn. So sehr ich meine Schwester auch immer vermisst hatte, tief in mir hatte ich damit abgeschlossen, dass ich sie niemals wiedersehen würde. Die Begegnung mit ihr hatte meine alten Gefühle durcheinander gewirbelt und die Mauer, die ich mir um den Schmerz erbaut hatte, zum Einsturz gebracht. Ich war einfach nur verzweifelt durch die Überforderung mit all meinen Gefühlen.

Es war zu viel für mich!

Tief in Gedanken versunken, achtete ich nicht auf den Weg vor meinen Füßen. Erst ein weicher Körper, gegen den ich prallte, stoppte mich.
„Was bleibst du hier so mitten im Weg stehen?“, blaffte ich den geflügelten Mann etwas genervter an, als ich überhaupt beabsichtigt hatte.
„Verzeih, es war meine Schuld“, murmelte ich gleich darauf. Geschwind wollte ich mich an dem Maia vorbeischlängeln, doch er hielt mich an meinen Armen zurück.
„Leyla halt. Wir sind schon am Ziel“, bemerkte er, ein kurzes Schmunzeln huschte über seine Lippen.

Verwirrt schaute ich auf in sein belustigten Gesichtsausdruck. Meine Gedanken hatten mich so sehr im Griff gehabt, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie ich durch die Holztore getreten war. Die Wände führten hoch in den Himmel und dort, wo normalerweise ein Dach gewesen wäre, sah ich den strahlend blauen Himmel. Beeindruckt klappte mir der Mund auf.

Fly with meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt