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"Hey!" Ich hörte meinen Vater, als ich ihm im Flur entgegen lief, kurz anrämpelte und direkt nach Oben rannte.
Mit Schwung landete der Rucksack am Tischbein und die Sporttasche direkt daneben.
Ich selbst landete mit dem Gesicht direkt in meiner Matratze und so blieb ich auch noch einige Momente liegen bis es an meiner Tür klopfte.
Da die Tür nicht ungeniert geöffnet wurde war ich mir sicher das es nicht meine Mutter sein konnte. "Ja?" Mit lediglich erhobenem Kopf sah ich auch bereits meinen Vater herein kommen und sich gleich darauf neben mir aufs Bett plumpsen. "Stress mit den Frauen?" Er schubste mich nur kurz und ich hörte ihn etwas Kichern. "Nein, kein Stress mit den Frauen." Genervt ließ ich mein Gesicht wieder ins Kissen fallen. "Schule?"
Mit einem "imhmh" verneinte ich und er war kurzerhand still. Solange bis er laut aufjapste. Er hätte wahrscheinlich am liebsten 'heureka!' gerufen, aber das war die falsche Epoche. "Stress mit einem Jungen?"
Ich zögerte etwas und fragte mich ob mein Vater wirklich der richtige Adressat für mein derzeitiges Chaos wäre. Doch mit irgendeinem musste ich ja sprechen. "Möglich."
Ich richtete mich auf und sah ihn mir genau an. Mein Vater sah aus wie ein Vater - nichts spektakuläres an ihm. Kurzes Haar mit der immer gleichen Frisur, hellblaues Karo-Hemd, Anzughose. Er sah eigentlich immer so aus - wie ein Dad halt und nicht wie jemand mit dem ich über Ace und dessen Küsse sprechen konnte. Geschweige denn von den Berührungen dir mich sogar gefielen.
"Okay... Egal welche Probleme ihr habt - rede mit ihm." Da ich nicht sprach gab er mir einen einzigen Rat und wollte gerade zur Tür hinaus. "Und was ist wenn ich nicht weiß ob es ein Problem ist?" Bevor er ging erhob ich mich fix und setzte mich in den Schneidersitz. Mein Vater selbst blieb mit der Klinge in der Hand stehen und schien erst einmal zu überlegen bevor er die Tür richtig schloss. "Mhm wirklich? Also ich denke für viele Menschen da draußen ist es ein riesiges Problem. Für andere Menschen absolut nicht." Damit öffnete er die Tür und schloss sie wieder ganz vorsichtig um mich mit meinen Gedanken alleine zu lassen. Zu meiner Überraschung war mein Vater tatsächlich hilfreich gewesen und schien augenblicklich verstanden zu haben was eigentlich mein vielleicht - Problem war.

Jeglichen Ruf meiner Mutter nach mir ich solle zum Essen kommen ignorierend widmete ich mich lieber meinen Recherchen und starrte nun auf die Google Startseite nicht wissend was ich genau suchen sollte. ich tippe schlussendlich nur das Wort Gay + definieren ein. Bei all den neuen Informationen zweifelte ich noch mehr an allem, als zuvor. War noch verwirrter, noch unsicherer. Bis vor kurzem war ich noch verknallt ohne Ende in Laura, doch dann kam Ace und brachte mich völlig aus der Bahn.
"Papa!" Ich brauchte einen Rat und Hilfe von jemanden der mich vielleicht verstehen konnte, doch statt ihm platzte meine Mutter herein und sah nicht besonders glücklich aus. "Das Essen wird kalt und du brüllst nach deinem Vater?" Aus Schock über ihr Erscheinen knallte ich den Laptop einfach zu und sprang von Stuhl auf. "Jaja. Ich komme schon."
Trostlos lief ich ihr hinterher und warf verstohlen einen Blick auf mein Handy. Ace hatte nicht mehr geschrieben und in mir bildete sich ein schweres Gefühl das ich nicht wirklich definieren konnte.

Dieses Gefühl war auch noch am nächsten Morgen da, als Ace noch in der Nacht Bilder von sich mit Freunden in einer Bar im WhatsApp Status postete. Mitten in der Woche, in der Nacht zum Dienstag schien er viele Freunde zu haben die am nächsten Morgen scheinbar nicht arbeiten mussten oder zur Schule oder Uni oder überhaupt wohin.
Mich von seinem Nachtleben ablenkend konzentrierte ich mich darauf noch fix einige Hausaufgaben fertig zu schreiben. Noch nie im Leben hatte ich meine Aufgaben für die ersten Stunden im Bus erledigen müssen und anders, als in den Teeniefilmen sah man es meiner Schrift leider auch an.
Dem entsetzten Blick meiner Deutschlehrerin zu urteilen war ich später auch aufgeflogen, aber zumindest hatte ich sie und konnte die fünfzehn Minuten Pause für die Aufgaben zur nächsten Stunde verwenden. Solange bis ich gestört wurde. "Ey Nathe." Lisa hatte sich neben mich auf den Boden fallen lassen und ich war mehr als erstaunt das sie mich unten in den Nieschen zu den Bioräumen überhaupt finden konnte. "Du bist schwerer zu finden, als ein Floh im Heuhaufen.", stöhnte sie und band sich das lange Haar in einen Zopf.
"Nadel." Antwortete ich kurz und bekam einen irritieren Blick zurück. "....Nadel im Heu...egal. Wieso hast du mich gesucht?" Sie räusperte sich und haderte etwas mit sich herum. "Eigentlich wollte ich mich entschuldigen für neulich. Du hast Recht damit das wir dich nur ausnutzen wollten. Deshalb..." Sie wühlte in ihrer Tasche herum und hielt mir ihren USB Stick vor die Nase. "Für Englisch. Du hast deine Hausaufgaben nicht oder? Kopier meine und Tipp einfach was um. Das spart dir doch Zeit oder?" Nun war ich total verwirrt und reagierte zunächst überhaupt. Erst als sie an mir vorbei griff und meinen Laptop aus der Tasche zog. "Du tust so als wäre noch niemand nett zu dir gewesen." Ungehemmt öffnete sie den Laptop einfach und blieb unvermittelt in jeglicher Bewegung stehen. "Passwort kennst du nicht oder?" Ihre Stimme war etwas dünner und ein schräges lächeln begleitete ihren Blick in meine Richtung. "Wozu?" Da ich nicht begriff was sie wollte drehte sie einfach meinen Laptop um und ließ mich kreidebleich jegliches Gefühl für meine Gesichtskontrolle verlieren, denn noch immer war die Seite von gestern über meine Recherche geöffnet und der Laptop stand lediglich auf Stand-by. "Ich kann das erklären!" Ich brüllte fast und spürte wie mir kalter Schweiß die Stirn herunter lief. Doch Lisa schüttelte nur den Kopf. "Nicht nötig. Also bist du..." Sie sprach so langsam, als würde sie gerne wollen das ich es ausspreche. "Nein! Also... Ich weiß nicht..." Mit Tränen in den Augen wusste ich nicht was ich machen sollte und dennoch fühlte es sich so an als könnte ich ihr Vertrauen schenken. "Wenn ich dir etwas erzähle, schwörst du mir absolut niemandem etwas zu erzählen? Nicht mal deiner Schwester." Sie nickte fleißig und wartete das ich anfing. Tief durchatmend fing ich an ihr alles zu erzählen und als ich fertig war schlug sie mir mit energischer Kraft gegen die Brust. "Aua! Wofür war das denn bitte?" Ich rieb mir die getroffene Stelle. "Dafür das du ein dummer Idiot bist! Wie konntest du Ace nur so zurück lassen! Er muss sich furchtbar fühlen so zurück gewiesen zu werden. Das musst du wieder gut machen! Du solltest dich zumindest entschuldigen."
Sie war total entsetzt über mein Verhalten und auch überraschend sauer. "Und was soll ich sagen? Sorry ich fand es voll schön, aber weiß nicht ob ich gay bin?" Wieder kassierte ich einen Schlag auf sie Stelle und rieb sie nun erneut doch bevor Lisa noch etwas sagen konnte klingelte es bereits zur nächsten Stunde und gemeinsam liefen wir los. Aber auch hier blieb mir kein Moment der Ruhe und anders als ich es gewohnt war forderte sie mich auch im Unterricht auf mit ihr zu kommunizieren. Via Instagram ploppten immer wieder neue Nachrichten auf und ich las einen Tipp nach dem anderen wie ich das mit Ace wohl wieder hinbekommen könnte. Leider war jeder Tipp mit der Voraussetzung das ich mit ihm persönlich sprechen müsste und das machte mir Angst. Ich konnte bei Ace keinen Plan vorher machen, nicht irgendeine Serie die ich kannte als Leidtfaden benutzen. Als würde Ace Tag täglich meine ganzen Pläne, die stets funktionierten, bombardieren. Selbst mein Schulalltag veränderte sich und das jagte mir eine Heidenangst ein. Bei dem Gedanken daran was mir mehr Angst einjagte war es fast schon ein automatischer Griff an mein Handgelenk und mit nur einem Finger unter'm Ärmel kratzte ich mich. Ich merkte eine raue Stelle am Nagel und nutzte sie um noch stärker kratzen zu können. Ich dachte an Ace und wie sich jede seiner Berührungen anfühlte und das er mich scheinbar sehr gerne berührte. Je mehr ich daran dachte desto mehr kratzte ich mich und ignorierte den immer stärker werdenden Schmerz. Es schmerzte noch nie so sehr wie heute und ich konnte einfach nicht aufhören.

Wolke 6 1/² - für mehr hat's nicht gereichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt