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Etliche Gespräche später ist das Essen endlich beendet. Das Dessert habe ich so langsam gegessen, dass es lange nicht mehr warm ist und eigentlich auch nicht mehr wirklich schmeckt. Was aber sicher zum größten Teil an der Gesamtsituation liegt.
Nachdem alles abgeräumt ist habe ich allerdings keine Ahnung was als nächstes kommt, aber habe die Hoffnung auf etwas Aufheiterndes.

Die Hoffnung schrumpft innerhalb von Sekunden als mein Vater sich zu mir dreht und mir erklärt, was jetzt passiert.
„Guck Wooyoung, es geht darum sich mit allen auszutauschen. Wir stehen gleich auf und setzen uns an einen anderen Tisch. Und mit den Leuten unterhalten wir uns nett. Dann gehen wir zu noch einem anderen Tisch, bleiben dort einen Moment und dann verabschieden wir uns und gehen nach Hause."

Ich atme so tief wie am ganzen Abend bisher nicht. Mein Dad bekommt das mit und wirft mir einen hochgezogene-Augenbraue-Blick zu während er aufsteht, sein Hemd richtet und sein Jackett glattstreicht. Mom steht auch auf und ich tue es ihm gleich, bevor ich den beiden wie ein braves Hündchen durch den Raum folge. Mein Vater scheint schon wieder den vollen Überblick darüber zu haben wo wir hinmüssen, denn er steuert zielstrebig einen Tisch an, der nicht die logische erste Wahl für einen neuen Tisch gewesen wäre. Als wir ihn erreichen finden wir wie durch ein Wunder genau drei freie Plätze vor und ich folge dem Beispiel meiner Eltern und nicke allen am Tisch freundlich zu bevor ich mich setze.

Es wird direkt ein Gespräch gestartet und ich gebe mir alle Mühe konzentriert mit zu verfolgen was gesagt wird. Das es mir überaus schwerfällt liegt entgegen aller Erwartungen nicht daran, dass über komplexe Wirtschaftsstrukturen, Geschäftliches oder mir ferne Themenbereiche philosophiert wird, sondern am genauen Gegenteil.

Die Unterhaltungen sind so banal, dass der Schnaps, der zwischendurch gebracht wird, bitter nötig ist. In den Genuss des danach eintretenden, vorgegaukelten Zustandes komme ich nur leider nicht, weil meine Mutter den Kellner lieb anlächelt und sehr bestimmt den Kopf schüttelt, als er mir ein Glas hinstellen will. Ich will am liebsten den Kopf auf die Tischplatte hauen. Vor allem weil mein Vater mittlerweile wieder dazu übergegangen ist, über mich zu erzählen und dazu, möglichst unauffällig den Raum zu scannen.

Nach gefühlten Ewigkeiten schiebt mein Dad sein leeres Glas in die Mitte des Tisches und setzt zu einer Verabschiedung an. Ich bin fast schneller wieder auf den Beinen als er. Erneutes Nicken zu jedem. Erneute halbe Weltreise durch den Saal, bis ich nicht mehr weiß wo wir sind und wo wir schon waren. An sämtlichen Tischen bleiben meine Eltern kurz stehen, grüßen andere, tauschen Zustandsbesserungwünsche aus und gehen doch weiter. Ich schiele unauffällig auf alle alkoholischen Getränke an denen ich vorbeikomme und seufze erleichtert, als ein Kellner mit Champagnergläsern neben mir stehen bleibt. Dankend nehme ich eins von Tablett, wohlwissend, dass meine Mom es mir nicht wegnehmen kann.

Ich laufe also weiter nur meinen Eltern hinterher und bemerkte dementsprechend erst relativ spät, dass wir in der Mitte des Saals stehen bleiben. Konzentriert auf mein Glas und hinter meinen Eltern stehend bekomme ich von den Begrüßungen erst nicht viel mit.

Bis der Name „Choi" fällt.
Mein Blick fliegt nach oben und da meine Mom ein Stück zur Seite getreten ist habe ich den perfekten Blick auf den Tisch und die drum herum sitzenden Personen.

Und wer hätte es gedacht, ein amüsiert grinsender San guckt mir von seinem Stuhl aus entgegen. Neben San sitzt eine Frau, die vermutlich seine Mutter sein muss und neben die sich meine Mom setzt. Zwischen meine Eltern komme ich und links neben mir mein Dad.
Und das ganze Prozedere geht von vorne los.

Diesmal kommt der Typ mit dem Schnaps schneller und rettet mir doch unverhofft die folgenden, trockenen Gespräche. Während meine Mom mir wieder die Aussicht auf Hochprozentiges verdirbt, in dem sie nur nüchtern auf mein halbvolles Champagnerglas zeigt, lässt San sich ein Schnapsglas geben und prostet mir mit einer gehobenen Augenbraue und einem hochgezogenen Mundwinkel zu. Am liebsten hätte ich allen meinen Champagner ins Gesicht geschüttet. Allen voran meinem Dad. Danach San. Aber dann wäre sein Hemd nass gewesen. Andererseits hätte es sich dann sehr nett an seinen Körper geschmiegt, oder ich hätte mitgehen müssen ihm ein neues zu suchen. Vielleicht hätte er es ausgezogen und ...

„Wooyoung ist sehr interessiert in Wirtschaftspsychologie. Er ein äußerst engagierter Teilnehmer eines außerschulischen Seminares, dass für junge Interessierte die Grundlagen verschiedener Wirtschaftssysteme erklärt. Außerdem gedenkt er verschiedene Studiengänge auf Chinesisch zu belegen. Er ist sehr begabt und wird unteranderem einen Abschluss in Chinesisch machen."
Mein Vater reißt mich aus meinen Gedanken und in meiner Vorstellung schwebt das Champagnerglas schon wieder über seinem Kopf. Ich nicke und lächle mein bestes aufgesetztes Lächeln.

Eines muss ich meinem Dad lassen, er erinnert sich an die dermaßen skurrile Phase, in der ich so vollkommen fasziniert von seinem Job gewesen war, dass ich drei Wochen dieses Seminar besucht habe. Wahrscheinlich nur, weil es ihn unglaublich stolz gemacht hat, dass sein Sohn sich in so jungem Alter für etwas so wichtiges und zukunftsfähiges interessiert. Kunst war ihm nie genug gewesen.
Wirtschaftspsychologie ist trotzdem der größte Mist den ich bis jetzt gehört habe. Und auf Chinesisch studieren? Aber ganz bestimmt nicht.

„Das ist sehr interessant Wooyoung. Also wird es Wirtschaftspsychologie für dich?"
Ein Blick zu San, ein Blick zu meiner Mom, ein Blick zu meinem Dad und wieder zurück zu dem Typen der mich angesprochen hat. Ich gucke wieder zu meinem Dad.

Payback-Time.

„Eigentlich habe ich mich auch in Richtung des medizinischen Bereiches umgesehen. Ich sehe dort viele Chancen und Möglichkeiten für mich und der Bedarf an jeglichem Personal befürwortet dies nur. Das Medizinstudium ist vielleicht etwas langweilig, Pharmazie ist da schon ansprechender. Aber mit meinen Noten sollte es ja nicht sehr schwer sein irgendwo reinzukommen.", ende ich mich einem süßlichen Unterton meine Version meiner Zukunft.
Dabei muss ich mich zusammenreißen nicht zu San zu schauen, der bei „Pharmazie" und „besten Noten" merklich zusammen gezuckt ist. Am liebsten würde ich aber das Gesicht meines Vaters sehen. Wenn er so über mich lügen kann, kann ich das auch.
Er weiß, dass mit Chemie die schlechtesten Noten ins Haus flattern und Pharmazie ist sowas von weit entfernt von dem, wozu ich überhaupt fähig bin.

Ich beantworte noch ein paar Fragen bis es um jemand anderen am Tisch geht und nehme einen großen Schuck von meinem Champagner.

Ich wünschte der Alkohol würde schneller wirken, damit ich mich sofort trauen würde, Sans Blick zu erwidern, denn ich spüre deutlich wie er mich anguckt.
Aber so dauert es noch ein paar Atemzüge, ein paarmal Blinzeln und einen unschuldigen Blick durch die Runde, bevor ich langsam den Blick hebe und Augenkontakt suche.

Keep me | WoosanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt