-9- Von einem Riss und einem Stall I

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hielt ich die Augen einen Moment geschlossen. Es war alles nur ein Traum. Das heißt, du liegst jetzt wieder in deinem Bett und machst dich gleich fertig für die Prüfung.

Aber noch bevor ich die Augen öffnete, spürte ich, dass ich nicht in meinem Bett lag. Stattdessen spürte ich Felle unter mir. Es war an der Zeit, den Gedanken, es handele sich bei alldem hier um einen Traum, endgültig zur Seite zu schieben. Gleichzeitig brach die Realität über mir ein wie ein Kartenhaus, das in sich zusammenfällt. Sophie und ich waren hier, um diese Welt zu retten, die wir nicht kannten und in die wir gewissermaßen entführt worden waren. Auf der anderen Seite war ich freiwillig hier, auch wenn ich nicht wusste, ob ich einfach wieder umkehren könnte, wenn ich mich dazu entschloss. Eigentlich wollte ich das nicht. Es war gewissermaßen Olivias letzter Wille, dass ich sowohl diese als auch unsere Welt retten sollte. Wie könnte ich alle meine Freunde im Stich lassen? Wie könnte ich Olivias Willen einfach ignorieren?

Sophie war nirgends zu sehen. Auf einmal wollte ich diese Gedanken mit jemandem teilen, offensichtlich musste ich damit noch warten.

Von dem Feuer war nur noch ein warmes Glimmen in einem grauen Aschehaufen übriggeblieben. Das Unbehagen war wieder da. Durch die kleinen Spalten in der Wand drang schwaches Sonnenlicht. Von dem Feuer war kaum mehr übrig als Asche.

Erst als ich mich aufsetzen wollte, merkte ich, wie steif mein Körper war. Mein Rücken protestierte beim Aufstehen mit einem Stechen. Nein, noch eine Nacht würde ich nicht hier schlafen. Mein Blick fiel auf einen Kleiderhaufen, der zusammengefaltet auf dem Bett lag. Offensichtlich war jemand nicht nur hier gewesen, um das Feuer anzuzünden. Nachdem ich mich gestreckt hatte, stand ich auf. Mein Körper fühlte sich fremd an. Ich lief zum Bett und betrachtete die Kleider genauer: Auf dem Bett lagen vier weiße, langärmelige Leinenhemden und drei dunkle Hosen. Außerdem ein dunkelblau gefärbter Umhang mit silbernen Ziernähten und ein Ledergürtel. Vor dem Bett standen ein Paar halbhoher schwarzer Stiefel. Als ich mich umzog, stellte ich fest, dass der Umhang in seinem Inneren viele kleine Taschen hatte. Daneben lagen ein kleiner Laib Käse und ein Brot, eingewickelt in ein Tuch, das frisch zu sein schien. Zudem eine Trinkflasche, die allerdings wenig mit den Flaschen zu tun hatte, die ich von Zuhause kannte. Die hier passte eher auf einen Mittelaltermarkt, es war eine lederne Feldflasche. Alles andere hätte mich wirklich überrascht.

Eine Weile stand ich da, um mich an die neue Kleidung an meiner Haut zu gewöhnen. Die Schuhe waren längst nicht so bequem wie meine Sneaker und auch das Hemd fühlte sich fremd an. Aber alles passte. Und irgendwo tief in mir drin war das hier ... richtig. Ich fühlte mich gut, obwohl ich nur die äußere Hülle um mich herum geändert hatte. Die Feldflasche befestigte ich an dem Gürtel, bevor ich ihn schloss. Meine alten Sachen ließ ich auf dem Bett liegen.

Ich aß das Brot, es war weich zwischen meinen Zähnen und schmeckte nach nichts. Danach knabberte ich an dem Käse. Kurz darauf verließ ich die Hütte.

Nachdem ich ein paar Schritte gegangen war, sah ich, dass das Dorf in Aufruhe war. Alle Menschen standen draußen auf der großen freien Fläche versammelt. Gemurmel drang an meine Ohren. Viele von ihnen hatten offensichtlich Probleme damit, geradezustehen oder nur die Augen offen zu halten.

Ich ging zu ihnen und erstarrte, als ich ihren Blicken folgte. Alle starrten auf einen tiefen Riss, der fast einmal quer über den Platz führte. Kurz vor einem Haus hörte er auf. Jedoch hatten die Schweine, die sich auf der Weidefläche am Haus tummelten, nun deutlich weniger Platz als zuvor.

„Das...das ist eine Drohung! Seht ihr denn nicht? Und da die Götter verschwunden sind, können wir nicht zu ihnen beten!" Der Mann, der das sagte, war offensichtlich der Besitzer jenes Hauses und redete schnell und laut. Er lief von einer Seite auf die andere. Um seinen Hals hing eine Rabenfeder, die er nun küsste. „Noch nicht einmal sie geben uns neue Hoffnung." Es war ein Murmeln, das kaum bis zu mir drang. „Warum klammern wir uns so an sie? Sie sind keine Götter." Er nahm das Band mit der Feder ab und warf sie ins Gras.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt