Arokin und Asir waren kurz darauf im großen Haus verschwunden, so wie die anderen Menschen. Sophie und ich standen nun davor und wussten nicht, was wir machen sollten. Inzwischen war die Sonne untergegangen und Dunkelheit hatte sich über das Land gelegt.
„Seid ihr neu hier?", hörte ich da eine Stimme. Sie gehörte zu einer kleinen Frau mit platinblondem Haar, die gerade auf uns zukam. In ihr Haar hatte sie eine schwarze Feder geflochten. Jeder der Einwohner schien irgendwo am Körper eine Rabenfeder zu tragen.
„Kannst du uns sagen, wo wir sind? Sonst gibt uns nämlich niemand eine Antwort auf diese Frage." Die Gereiztheit in Sophies Stimme war nicht zu überhören. Ab und an waren manche der Bewohner vorbeigelaufen, aber niemand beachtete uns. Als Arokin einmal an uns vorbeilief und wir fragten, was das sollte, sagte er nur: „Später, wartet erstmal hier." Das war vor einer guten halben Stunde gewesen.
„Das kann ich. Das hier ist Drosk. Oder meintet ihr das Land hier? Ihr scheint nicht von hier zu sein, wenn ich mir euere Kleider so betrachte...Seid ihr..." Sie ließ den Satz unvollendet verklingen und sah sich um, als bestünde die Gefahr, bei etwas Verbotenem erwischt zu werden.
Sie hatte recht. Sophie und ich mit unseren Jeans und Jacken waren in einer Umgebung, in der sonst nur einfache Gewänder und Umhänge getragen wurden, recht auffällig.
„Okay...danke", sagte ich, auch wenn es uns nur wenig weiterhalf. „Das ist übrigens Sophie und ich bin Sarah."
„Schön euch kennenzulernen", antwortete sie nur und ging auf die große Tür zu. Dann hielt sie inne. „Ihr solltet mitkommen. Da drin werden Geschichten erzählt. Und gutes Essen gibt es auch", damit war sie im Haus verschwunden.
„Na gut. Was haben wir schon zu verlieren?", fragte Sophie und ging los. Ich folgte ihr mit einem Brummen. Noch immer wollte ich nach Hause. Aber erst wollte ich Antworten, und die schien es nur im Inneren zu geben. Warum waren wir nicht schon früher hineingegangen? Ich konnte es nicht sagen. Der Gedanke war mir nie gekommen.
Die Halle wurde von Feuerschalen, die am Rand aufgestellt waren, erhellt. Hier herrschte buntes Treiben. Ein Musiker spielte auf einer Art Gitarre irgendein Lied und sang dazu. Es klang schön, irgendwie mittelalterlich und modern zugleich. Der Gesang wurde von dem Stimmengewirr der Anwesenden untermalt. Niemand hörte dem Sänger richtig zu, aber das schien ihn nicht zu stören. Es roch nach Holzfeuer und Essen. An dem großen Tisch, der vorhin noch so verloren gewirkt hatte, hatten nun einige Personen auf den Holzbänken Platz genommen. Am hinteren Ende des Tisches stand ein großer Stuhl, der mit Fellen gepolstert wurde. Daneben stand die Frau, die uns gerade über den Weg gelaufen war, und unterhielt sich mit Durijan. Arokin und Asir standen bei ihnen, beteiligten sich aber scheinbar nicht an der Unterhaltung. Als er uns sah, löste sich Arokin aus der Gruppe und kam auf uns zu. Er musste sich an zwei Kindern vorbeidrängen, die durch die Halle rannten und allem Anschein nach Fangen spielten. Allerdings hatte der kleine Fänger die Augen verbunden. Mich wunderte es, dass er niemanden umzurennen oder irgendwo anzustoßen schien. Das kleine Mädchen, hinter dem er herjagte, hatte sich jeweils einen kleinen Glockenkranz um die Fußgelenke gewickelt. Es klimperte leise, als sie an uns vorbeirannten.
„Ihr wolltet doch Antworten, oder? Dann feiert jetzt mit uns, danach bekommt ihr sie", sagte er nur und ging wieder zu den anderen zurück.
„Das ist Erpressung", warf Sophie ein. Niemand außer mir hörte es.
„Ich weiß ja nicht, was du machst", meinte ich daraufhin mit Blick auf den Tisch, auf dem sich allerlei Essbares tummelte. „Aber ich habe einen Bärenhunger und gehe jetzt etwas essen. Wenn man schon keine Antworten bekommt."
Ich achtete nicht darauf, ob sie mir folgte. Es war mir auch egal. Am Tisch angekommen, setzte ich mich an die hintere Ecke. So war ich möglichst weit weg von den anderen Bewohnern. Auch wenn sie für mich nicht feindlich aussahen, hielt ich es für besser, sie erst einmal zu beobachten, bevor ich mir ein endgültiges Urteil fällte. Das war immerhin meine Devise geworden. Wenn es schon bei Asir und Arokin nicht richtig funktioniert hatte, dann wenigstens bei allen anderen.
Von der kleinen Frau wurde mir sofort ein Teller vor die Nase gestellt. Darauf befanden sich ein Stück gebratenes Fleisch, das in einer hellen Soße schwamm, Karotten und etwas, das mich an kleine, grüne Kartoffeln erinnerte. Sie waren etwa so groß wie Heidelbeeren. Außerdem stellte sie einen Becher vor mir ab, der mit einer dunklen Flüssigkeit befüllt war, die unglaublich stank. Das soll trinkbar sein?, fragte ich mich, als ich den Inhalt genauer inspizierte und die Nase rümpfte. Es roch nach verfaulten Äpfeln, Fleisch und Alkohol. Die anderen an dem Tisch schien es nicht zu interessieren, sie tranken einfach. Zwischendurch prosteten sie sich zu und tranken noch mehr. Ich hatte zwar Durst, aber ich nahm mir vor, später lieber das Flusswasser trinken.
Schließlich gewann der Hunger und ich probierte das Fleisch und die Karotten. Es war köstlich.
Was ist, wenn das Essen vergiftet ist? fiel mir ein, als ich alles bis auf die Kartoffeln, oder was auch immer das war, gegessen hatte. Dann ist es sowieso schon zu spät.
Mit diesen Gedanken piekte ich eine Kartoffel auf und steckte sie mir in den Mund. Nicht ohne Widerwillen. Aber ich wollte wissen, was es war. Es schmeckte ein wenig nach Erde und es knirschte unangenehm zwischen den Zähnen. Aber abgesehen davon kam es geschmacklich nah an Nüsse heran.
Ich lauschte der Musik und dachte an den vergangenen Tag. Es war so viel Unerklärliches passiert. Ich bin durchgeflogen. Sollte das heißen, dass er ein Vogel war? Aber das war unmöglich. Auf der anderen Seite hätte ich noch vor kurzem vieles für unmöglich gehalten.
Meine Gedanken wurden von der Musik und dem Murmeln untermalt.
Wie war ich hierhergekommen? Was hatte das alles mit Olivia zu tun? Ich brauchte dringend Antworten, sonst würde ich noch durchdrehen. Immerhin wurden sie mir von Asir und Arokin versprochen.
Nachdem ich zwei randvolle Teller verdrückt, mein Getränk aber immer noch nicht angerührt hatte, kam Durijan auf mich zu. Er hatte keine Bemalung mehr im Gesicht, wirkte weniger grimmig.
„Nimm deine Freundin und komm mit", sagte er im Vorbeigehen. Dabei sah er mich nicht an. Scheinbar wollte er nicht, dass man sah, dass er mit mir sprach.
„Sie ist nicht meine Freundin!" Der Satz kam als Zischen aus meinem Mund, niemand außer mir hörte es.
Ich winkte Sophie, die am anderen Ende des Tisches saß, widerwillig zu, und folgte dem Fürsten.
Ich erntete einen sauren Blick, da Sophie gerade mit Essen beschäftigt war. Schließlich legte sie die Gabel ab und folgte mir.
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Lihambra - Geheimnis der Raben
Fantasy!!! WIRD ENDE FEBRUAR VON DER PLATTFORM GENOMMEN - KANN DANACH NOCH AUF INKITT GELESEN WERDEN!!! Sarah hat es in ihrem Leben nicht leicht. Nach dem Tod ihrer Schwester wird sie immer wieder von der Trauer eingeholt. Aber all das rückt in den Hint...