„Das gibt es doch nicht. Wo ist er denn jetzt schon wieder?“, fragte Ben. Wir waren in der Schule, saßen auf unseren Plätzen. Die letzten beiden Tage war Arokin nicht in der Schule aufgetaucht. Davor war er stets verspätet angekommen. Sophie war immer mit ihm unterwegs und eigentlich redete er auch mit niemandem, außer mit Sophie.
„Ich würde sagen, das gehört zu seiner Art von großem Auftritt“, sagte Henry.
„Und Sophie lässt es sich natürlich nicht nehmen, an dem großen Auftritt beteiligt zu sein. Typisch“, stellte Lina fest.
„Ja“, sagte ich abwesend. „Leute, ich muss euch später mal von etwas Seltsamen erzählen. Wenn wir allein sind.“
„Geht es dir gut?“, fragte Lina.
„Ja…nein. Keine Ahnung. Später“ Damit beendete ich das Thema.
In dem Moment kam der Deutschlehrer in den Raum.
„Guten Morgen“, sagte er fröhlich. Herr Bunte legte seine Tasche auf den Tisch, lehnte sich mit den Händen auf die Tischkante und schaute durch das Zimmer.
„Sieht so aus, als würden heute ein paar Leute fehlen…“, er nahm das Klassenbuch und trug es ein.
Außer Sophie und Arokin fehlten noch drei andere.„Ich würde ja sagen, dass es mir egal ist. Ist es aber nicht. Das ist unsere letzte Stunde vor den Prüfungen. Da wäre es schon gut, wenn alle da sind…“ Mit diesen Worten begann er den Unterricht.
Nach einer halben Stunde kam die Direktorin durch die Tür, beugte sich zu Herrn Bunte, um ihm etwas zu sagen. Er sah kurz fast panisch in die Klasse, dann stand er von seinem Stuhl auf. Während wir einen Auftrag bearbeiteten, hatte er am Pult gesessen und den Test einer anderen Klasse korrigiert. Er folgte der Lehrerin nach draußen.
Kaum trat er aus dem Raum, standen die ersten Schüler auf und setzten sich in Gruppen zusammen, um sich zu unterhalten. Gemurmel ertönte, mir fiel es immer schwerer, mich zu konzentrieren.
Einige Minuten später kam er zurück.
„Wir hören hier für heute auf“, sagte er. „Ihr könnt ja bestimmt alles. Und über die Hälfte der Stunde ist sowieso vorbei. Schaut euch die Sachen einfach nochmal zuhause an… Genau…“
Ich sah zu meinen Freunden. Sie wirken genauso verwirrt wie ich. Mir war nicht entgangen, dass Herr Bunte bei dem, was die Direktorin ihm erzählt hatte, schockiert wirkte. Auch jetzt sah er noch blass aus. Außerdem hatte er uns geduzt, das hatte er noch nie gemacht. Etwas musste passiert sein. Aber ich wollte mir darüber nicht auch noch den Kopf zerbrechen.
***
„Also, aber haltet mich jetzt nicht für verrückt. Oder doch? Ich weiß es ja selbst so langsam nicht mehr...“, damit begann ich, von meinen Erlebnissen von vor einer Woche zu erzählen. Für mich behalten konnte ich das alles nicht länger.
Meine Freunde hörten die ganze Zeit über nur zu, schauten mich an und ließen sich ihre Gefühle nicht anmerken. Nur Lina verzog das Gesicht, als ich von dem Stich im Rücken erzählte.
„Und dann diese Raben, die überall auftauchen. Als würden sie mich verfolgen. Jeden Morgen sitzt mindestens einer auf meinem Balkon. Und wenn ich nachmittags Heim komme, sitzen sie dort schon wieder.“
„Okay…“, meinte Ben, „das ist … komisch! Sehr komisch…“
Lina schaute mich aus ihren braunen Augen an. „Dir ist einfach alles zu viel geworden. Der Brief wurde wahrscheinlich vom Wind verweht und das du ohnmächtig geworden bist, war einfach ein Schutzmechanismus.“
„Und das, was während der Ohnmacht passiert ist? Und der Haufen Asche mit der Feder?“, ich begann, hektisch zu reden und mit ihrem Zeigefinger gegen ihren Daumen zu tippen. Eine schreckliche Angewohnheit, wenn ich nervös wurde.
„Das war deine Art, das, was geschehen ist, zu verarbeiten“, versuchte meine Freundin die Frage zu beantworten.
„Wahrscheinlich hast du recht…aber nach dem Aufwachen habe ich immer noch diesen Schmerz gespürt. Und als ich dort war, hat sich alles so real angefühlt. Das ist doch nicht normal!“
„Es war nicht real.“
„Ja, das stimmt. Aber ich sage dir, das war nicht einfach nur ein Traum. Und alles, was davor passiert ist… Da stimmt doch was nicht! Mit mir stimmt was nicht!“ Wieder hörte ich ein Krächzten und ein großer, schwarzer Vogel flog über den Schulhof.
„Da, schon wieder einer!“, ich deutete in die Luft, verfolgte mit dem Finger den Flug des Tieres.
„Nein, mit dir ist alles gut! Du stehst einfach etwas unter Stress. Da ist es doch vollkommen verständlich, dass du da etwas anders reagierst.“ Lina folgte meinem Finger. „Und das mit den Vögeln fällt dir jetzt einfach nur besonders auf, weil…“
„Du das selektiv wahrnimmst“, fuhr Henry fort. „Du achtest jetzt vermehrt auf die Raben, weshalb auch immer. Daran liegt es und nicht, weil du verrückt wirst. Und deswegen hast du auch davon geträumt.“
„Aber es war alles so…“ Ich ließ den Satz im Nichts enden. Doch einfach so stehenlassen konnte ich es nicht. Richtig erklären konnte ich meine Empfindungen aber auch nicht.
„Ruh dich einfach aus, Sarah. Dann wird sich das schon legen“, schlug Ben vor. „Geh nach Hause. Heute steht sowieso nix wichtiges mehr an, du verpasst rein gar Nichts. Dann bist du am Montag wieder fit!“
„Na gut. Entschuldigt ihr mich?“
„Natürlich“, sagte Lina voller Nachsicht. „Wenn Sophie und Arokin fehlen können, kannst du das erst recht!“
Ich verabschiedete mich mit gemischten Gefühlen von meinen Freunden. Ich war schon fast am Tor, als eine Durchsage aus den Lautsprechern tönte: „Aufgrund eines tragischen Vorfalls ist der Unterricht für heute beendet.“ Das war alles, es gab keine Erklärung. Mir war das nur recht, dennoch beschlich mich ein ungutes Gefühl. Ich lief weiter, wollte allein sein. Hinter mir brach lauter Jubel aus. Auf dem Parkplatz entdeckte ich ein Polizeiauto. Es war nicht das erste diese Woche. Doch ich hatte die Besuche der Polizei verdrängt.
Noch ein unschuldiges Opfer. Aber das war nicht real gewesen. Der Gedanke verschwand wieder.
***
Ich machte einen Zwischenstopp auf dem Friedhof.
„Ich bin also nicht schuld. Was ist dann passiert und was sollte der Brief bedeuten? Wann hast du mir ihn untergeschoben?“ Wem machte ich etwas vor? Ich war verzweifelt. Natürlich kam keine Antwort. Aber wieder kreisten drei Raben über den Himmel.
Die Gedanken verschwanden nicht. Inzwischen kam es mir nicht einmal mehr komisch vor, dass immer mehr Raben auf den Friedhof kamen. Sie saßen überall, auf den Grabsteinen und in den Bäumen.
Nach ein paar Minuten ging ich zurück in Richtung Tor. Was nützte es, hier so lange rumzustehen?
Etwas lag in der Luft. Es fühlte sich so an, als würde gleich etwas passieren.
Dann hörte ich eindeutig Schritte hinter mir, das Knirschen der Kieselsteine. Doch als ich mich umdrehte, war niemand da.
Jetzt ist es um mich geschehen! Ich sollte mich vielleicht lieber einweisen lassen.
Ich lief weiter.
„Sarah!“ Ich zuckte zusammen, blieb aber nicht stehen. Schnell blickte ich über meine Schulter. Es war noch immer niemand hinter mir.
„Bleib doch mal stehen!“ Wie auf ein unsichtbares Zeichen flogen alle Raben gleichzeitig los. Eine dunkle Wolke bildete sich am Himmel, bevor sie sich in alle Himmelsrichtungen verteilte. Es war ein gruseliger Formationsflug.
Ein Schrei entwich mir und ich fing an zu rennen. Immer noch war weit und breit kein Mensch zu entdecken. Mein Atem ging schneller und ich konnte meinen Herzschlag in meinen Ohren hören.
Wurde ich von einem Geist heimgesucht? Oder hatte das etwas mit der Polizei zu tun, die in die Schule gekommen war?
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Lihambra - Geheimnis der Raben
خيال (فانتازيا)Sarah hat es in ihrem Leben nicht leicht. Nach dem Tod ihrer Schwester wird sie immer wieder von der Trauer eingeholt. Aber all das rückt in den Hintergrund, als wenige Tage vor ihrem Schulabschluss ein neuer Schüler in die Klasse kommt. Zeitgleich...