-31- Von Glühwürmchen und Wegweisern I

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Meine Hände ruhten auf dem Stamm. Ich spürte die abgeplatzte Rinde unter meinen Fingern, sah die Baumkrone über mir aufragen und dachte an die Entstehung dieses Baumes. Auch er war einmal klein gewesen, groß und prächtig geworden, bevor er jetzt drohte, zu vergehen. Ich fühlte, dass Lihambras Zufall zwar vorläufig verzögert worden, doch nicht aufgehalten worden war. Lange würden wir nicht mehr haben.

Oder war es das, was ich brauchte, damit die Macht ihren Weg zu mir fand? Würde gar etwas ganz anderes passieren? Da war man schon eine Göttin und kannte trotzdem nicht alle Antworten.

Das spielte keine Rolle mehr. Ich war jetzt hier.

Ich schickte meinen Geist hinaus, in den Baum hinein. Diesmal war es einfach. Es war ein einfaches Hinausgreifen, als wollte ich eine Frucht von dem Baum ernten. Ich wurde eins mit der Macht. Mit dem Teil meiner Seele, der dort verwachsen war. Lediglich ein Bruchteil, nicht ansatzweise das, was Olivia mir zu geben fähig war. Und doch mehr als das, was Arokin besaß.

Ich spürte die Macht in mir. Es kribbelte zunächst in meinen Händen, ehe sich eine schwere Leichtigkeit durch mich ergoss. Langsam lief es durch mich, von einer Seite auf die andere, wieder zurück und schließlich ganz durch mich, fast wieder in den Baum hinein.

Wie ein Rausch floss sie durch mich. Ich fühlte mich größer als jemals, obwohl ich doch noch so klein war gegen das, was ich eigentlich war. Ich flog in unbeschreibbare Höhen, sah alles so klar und wusste, ich konnte erreichen, was ich wollte. Es war egal, was andere sagten. So unwichtig. Ich allein entschied. Ob ich erschuf oder zerstörte. Wenn ich wollte, könnte ich all das hier dem Erdboden gleichmachen. Oder noch mehr Bäume wachsen lassen, einen richtigen Wald. Weder das eine noch das andere würde ich tun. Ich rannte nicht mehr blind der Macht hinterher, sondern wusste um das Licht, das mir den Weg wies.

Ein Schlag fuhr durch mich. Schmerz löste die Leichtigkeit mit einem Mal ab.

Ich zuckte zurück, ließ meine Hände sinken.

Schmerz. Nicht der schlimmste, den ich je erlebt hatte und doch genug, um mich wieder von der Macht zu trennen. Als wäre der grellste Blitz durch mich gezuckt, den es gab. Ich spürte das unangenehme Kribbeln von meinem Haaransatz bis zu meinen Zehenspitzen. Die Elektrizität war ebenso in der Luft spürbar, eine plötzliche Abstoßungsreaktion gegen den Baum. Gegen meine eigene Macht!

Verlust. Meine Macht schoss zurück in den Baum, als würde man ein gespanntes Gummiband loslassen. Doch ein kleines bisschen blieb in mir. Die Lücke, die sie hinterließ, war spürbarer als jemals zuvor.

Funken flogen wie aufgebrachte Glühwürmchen um mich herum, doch sie erfüllten mich nicht ansatzweise mit dieser Freude, die ein Mensch bei ihrem Anblick empfinden würde. Stattdessen war es eine Erinnerung daran, dass es wohl doch nicht so leicht werden würde, wie bisher angenommen. Ich musste mich zuerst um Arokin kümmern.

Denn auch, wenn meine Macht wieder zurückgewichen war, spürte ich es. Die Verbindung, die Arokin zu dem Baum hatte, war nicht mehr nur einer dieser losen dünnen Fäden, wie sie jeder der Raben hatte. Stattdessen war es ein dickes Tau. Durch dieses Tau floss die Macht nun weiter zu ihm. Nicht schnell und doch kontinuierlich. Als hätte meine kurze Verbindung zu ihr einen Schalter umgelegt, sodass er nun an die Macht kam. Wie war das möglich? Wegen dem kleinen Teil meiner Selbst, das er besaß?

Immerhin hatte mich die Macht kurz gestreift, anstatt mich überhaupt nicht wahrzunehmen, so wie bei meinem ersten Versuch. Was hatte sich verändert? Lag die Antwort in mir selbst, weil ich mich verändert hatte, seitdem ich es das letzte Mal versucht hatte?

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt