-4- Von Raben und einem Fremden III

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Laut polternd rannte ich die Treppe herunter. Eilte zum Küchenfenster, um zu sehen, wohin er ging. Doch er war schon verschwunden. Der Vorgarten lag leer vor mir und auch auf der Straße entdeckte ich niemanden. Dabei hatte ich nur ein paar Sekunden zum Fenster gebraucht. Wieder griff eine eiskalte Hand nach mir. Woher kannte er meinen Namen? Und wohin war er verschwunden?

Langsam ging ich in mein Zimmer zurück. Wenn ich mir schon Stimmen hinter mir einbilde, wieso sollte das eben dann nicht auch eine Illusion gewesen sein? Ich ließ dem Gedanken freien Lauf: Wer sagte denn, dass nicht die ganze Welt, das ganze Leben, eine Illusion ist? Vielleicht hatte Olivia das damals erkannt, und ihrem Leben ein Ende gesetzt, damit sie endlich aufwachen konnte?

Aber was hatte dieser Asir gesagt? Sie hat sich nicht selbst umgebracht. Du hast keine Schuld.

Das alles ergab keinen Sinn. Am besten wäre es, ich würde mich jetzt sofort in der Psychiatrie einweisen lassen. War das nicht ein Symptom von Schizophrenie? Dinge sehen und hören, die nicht da waren? Was kam wohl als nächstes? Lamas, die Klavier spielen? Die Raben draußen fangen an zu sprechen?

Das brachte mich auf eine Idee. Einen Beweis hatte ich, dass alles real war: die Rabenfeder. Ich lief zu meinem Schreibtisch und öffnete die Schublade, in die ich die Feder gelegt hatte. Hoffte, sie leer vorzufinden. Gleichzeitig hoffte ich auf das Gegenteil.

Ich spähte hinein. Da lag sie noch. Aber etwas hatte sich verändert. Unter der Feder hatte sich wieder ein kleiner Aschehaufen gebildet. Und es war nicht nur eine Feder, sondern zwei.

Ich fühlte mich, als wäre ich gegen eine Wand gerannt. Schnell ging ich zu meiner Tasche, angelte mein Handy und die Kopfhörer heraus. Dann ging ich zu meinem Bett, ließ mich fallen und zog mir die Decke über den Kopf. Dabei nahm ich mir vor, die Welt für das kommende Wochenende auszublenden. Die Prüfung war mir in diesem Moment vollkommen gleichgültig. Ich dachte an Sophie und auch wenn ich sie nie gemocht hatte, hoffte ich, dass es ihr gut ging.

Erst jetzt spürte ich, dass ich nichts mehr spürte. Mein Knöchel tat nicht mehr weh. Er schien nicht verstaucht zu sein.

Ich scrollte durch meine Playlist und fand einen Titel, bei dem ich normalerweise gut abschalten konnte. Doch heute setzte sich eine Zeile in meinem Kopf fest: Easy to find what's wrong, harder to find what's right.

***

Ein paar Stunden später wurde ich durch ein Klopfen an der Tür aus meinen Gedanken gerissen. Ich stoppte die Musik.

„Essen", schallte die Stimme meines Bruders durch die Tür.

„Kein Hunger!" Ich hörte, wie er sich von der Tür entfernte und die Treppe hinunterlief. Eine Stufe knarzte. Keine Nachfrage, nach meinem Befinden.

Sie würden keine Unternehmungen anstellen, um mich zum Essen zu bewegen. Ich war schließlich alt genug, um es selbst zu wissen.

Schade eigentlich, dachte ich.

Ein weiterer Gedanke, der sich in dem Gebirge einnistete, das sich in den letzten Stunden angehäuft und selbstständig erweitert hatte.

Ich drehte mich in Richtung Wand und versuchte, Schlaf zu finden.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt