Eine Aussage von Asir ging mir nicht aus dem Kopf. Am Anfang war sie niemand. Diese Aussage war ein Stück altes Treibholz in meinem eigenen Gedankenfluss. Denn es war die Wahrheit. Eine Wahrheit, die ich mir selbst eingeredet hatte. Damals hatte ich mich an die Abiturprüfung geklammert, an meine Freunde. Meiner Selbst Willen hatte ich keine Erfüllung gefunden. Ich wollte einfach funktionieren und meinen Freunden beweisen, dass ich, trotz dem was ich durchgemacht hatte, trotz dessen, dass es in meinem Leben nur sie gab, nicht schlechter war als sie. Damit sie mich nicht auch noch fortstießen, denn dann hätte ich mit meinem Leben nichts mehr anzufangen gewusst. Was hätte ich dann getan? Vielleicht wäre ich aufgebrochen, um Olivia zu suchen. Aber auf eine ganz andere Art als jetzt. Vielleicht wäre ich ihr gefolgt.
Heute war es anders. Ich sah einen Sinn in dem, was ich tat, und fühlte mich nicht mehr fehl am Platz. Stattdessen wollte ich alles kennenlernen, was diese Welt für mich bereithielt. Um meiner selbst Willen. Egal, was andere davon hielten. Und ohne Olivia hätte ich das alles verpasst, dachte ich da. Auch wenn es nur ein kleiner Trost war, eine Träne in den Weltmeeren, so half es mir doch. Olivias Tod hatte einen Sinn. Sonst wäre ich Asir sicher niemals hierher gefolgt. Zumindest nicht freiwillig. Und ohne Sophie hätte ich diese Welt vermutlich nicht so zu schätzen gelernt, das, was ich hier gefunden hatte.
Ich war eine von vielen gewesen. Jetzt war ich die, die Asir dabei helfen würde, alles zu retten. Die, die Kontakt zu den Göttern aufbauen konnte. Blieb mir nur zu hoffen, dass uns das gelingen würde.
Das Rauschen des Flusses in meinen Ohren wurde übermächtig und ließ alle anderen Gedanken untergehen. Ich musste an diesen Fluss und nachsehen, wohin er führte. Fast war es, als wollte er mich zu sich rufen.
Der Baum wäre dann immer noch in Sichtweite, das Risiko nicht allzu groß. Wobei diese Welt allem Anschein nach sehr überschaubar war.
Also stand ich auf und lief los. Mit jeder Sekunde die verging, jedem Atemzug, mit jedem Schritt, den ich an diesem Ort tat, fühlte ich mich mehr mit ihm verbunden.
Ich setzte mich ans Ufer und beobachtete das rauschende Wasser. Schaum bildete sich am Ufer, während das Wasser über einzelne Steine gespült wurde. So, als würden die Hindernisse gar nicht existieren. Der Fluss bahnte sich seinen Weg einfach. Am Grund erkannte ich kleine helle Steine. Das Licht der Sterne schien leicht auf der Wasseroberfläche wider. Eine andere Uferseite gab es nicht. Dort verdeckte ein heller Nebel die Sicht auf das, was auch immer dahinterlag. Ich wusste, das hier war das Ende dieser Welt. Es gab sie nur, damit die Macht sich irgendwo sammeln konnte. Ich wusste es einfach. Hatte mir dieser Ort das Wissen zugeflüstert? Oder wusste ich es aus der Zeit, die ich in Pilkos' Verstand verbracht hatte?
„Meinst du, ich hätte es nicht bemerkt?“ Obwohl ich ihn nicht gesehen hatte, erschrak ich nicht. Lihambra war kein Ort, an dem ich in der Lage war, zu erschrecken. Hier war es sicher.
Ich sah mich um und erblickte Pilkos einige Meter neben mir, der näher an mich heran gehüpft kam.
Ich sagte nichts, richtete meinen Blick auf den Fluss. Was sollte ich schon sagen?
„Ich wollte nur wissen, ob Asir es bemerkt. Und das hat er. Ein weiteres Zeichen dafür, dass er nicht mehr mit dir unterwegs sein kann. Jetzt hat er eine andere Aufgabe.“
„Und zwar welche? Seinen Platz einnehmen und auf die Macht aufpassen? Ich will nicht allein weitermachen! Ich …ich will niemanden mehr verlieren.“ Meine Stimme wurde immer leiser, sodass sie in den Geräuschen des Wassers unterging.
„Das verlangt auch niemand. Du würdest ihn nicht verlieren, er stirbt nicht. Er kann dich nur nicht auf dem letzten Stück deines Weges begleiten.“ Der Vogel beäugte mich.
„Wo ist denn da der Unterschied? Er soll es mir selbst sagen.“ Obwohl ich ihn noch nicht lange kannte, wollte ich, dass der schwarz-graue Rabe verschwand.
Pilkos neigte den schwarzen Kopf und flog davon. Wieder war ich allein. Einem Impuls folgend, wollte ich die Drachenschuppe aus meiner Tasche hervorholen. Erst als ich in die leere Tasche griff, fiel mr ein, dass sie weg war. Aber ich konnte mir gut vorstellen, dass die Schuppe hier gold geleuchtet hätte.
Manches zerfällt zu Staub, anderes wird zu Gold. Es war eine Ewigkeit her, seitdem Asir mir diese Worte gesagt hatte, jetzt ergaben sie einen Sinn. Viel war auf meinem Weg zu Staub zerfallen. Anderes war sehr wertvoll für mich geworden.
Irgendetwas sagte mir, dass ich hier richtig war. Ein Gefühl ganz tief in meinem Inneren.
Vielleicht war das hier doch das Ende meiner Reise, ich war am Ziel angekommen. Mir doch egal, ob der Rest der Welt untergehen würde oder nicht. Ich war zu Hause.
Ein wenig weiter entfernt lag der Ort, an dem das Wasser in die Tiefe stürzte. Mein Blick folgte der Fliesrichtung des Flusses und erkannte eine Wolke aus einzelnen kleinen Wassertröpfchen. Die Luft hier war so klar und rein, wie ich es noch nirgendwo sonst erlebt hatte. Auch wenn ich erst kurze Zeit hier war, wusste ich bereits jetzt: Lihambra war etwas ganz Besonderes. Dieser Ort einzigartig.
Ich riss meinen Blick los und lief in Richtung des Baumes zurück.
Darunter stand Asir, wieder als Mensch, der auf mich zu warten schien. Als er mich kommen sah, kam er mir entgegen.
„Das was du da gemacht hast…“, setzte er an.
„Jaja“, ich hob beschwichtigend die Hände. „Ich weiß schon, das macht man nicht und es hat ja einen Grund, warum ich das nicht hören sollte…“
Er grinste schief. „Im Grunde, ja. Schön, dass dir das auffällt. Aber das war gut. Ich dachte, ich nehme die Gelegenheit wahr, um deine Fähigkeiten zu testen. Du hast bestanden. Mit Bravour.“
Verblüfft sah ich ihn an, hatte ich doch fest mit einem Tadel gerechnet. Dann nickte ich.
„Und davor hast du es bei mir versucht.“ Es war weder eine Frage noch ein Tadel. Einfach bloß eine Feststellung.
Er schien auf meine Erwiderung darauf zu warten. Aber was sollte ich sagen? Jedes Wort dazu wäre nutzlos gewesen.
„Pilkos ist…oder er war, mein Mentor. Und der von Arokin. Nachdem unsere Eltern“, er machte eine Pause, „starben, hat er uns auf unsere zukünftige Aufgabe vorbereitet, diesen Baum zu beschützen. Das Zentrum aller Macht, die Macht selbst zu beschützen. Eigentlich hätte Birinjir diesen Platz mit ihm geteilt. Aber Pilkos kann den Baum jetzt nicht länger kontrollieren. Wie du weißt, zerstört die Macht so, wie sie auch erschafft.“
„Das bedeutet, wenn du jetzt seinen Platz einnimmst, wirst du auch sterben?“ Der Gedanke riss mir den so sicher geglaubten Boden unter den Füßen weg. Wenn auch nur für einen kurzen Moment. Ich würde es schaffen. Irgendwie.
„Nun, früher oder später tut das jeder, oder? Alles ist vergänglich. Wer weiß, vielleicht wird selbst die Macht an sich irgendwann verschwinden. Und ich werde länger durchhalten als Pilkos, wegen meiner Abstammung. Trotzdem will ich es nicht.“
Das ließ mich nachdenklich innehalten.
„Ich habe noch eine Geschichte für dich. Da du sowieso die Hälfte mitbekommen hast…sollst du jetzt alles wissen. Ich denke, das ist für alle besser. Es ist Zeit.“
DU LIEST GERADE
Lihambra - Geheimnis der Raben
FantasySarah hat es in ihrem Leben nicht leicht. Nach dem Tod ihrer Schwester wird sie immer wieder von der Trauer eingeholt. Aber all das rückt in den Hintergrund, als wenige Tage vor ihrem Schulabschluss ein neuer Schüler in die Klasse kommt. Zeitgleich...