-30- Von Lihambra und Erinnerungen IV

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Ab jetzt gab es zwei Möglichkeiten. Wir konnten die Mauer stehenlassen, da es sowieso keinen Sinn hatte, sie zu zerstören. Oder uns mit allem, was wir hatten, von beiden Seiten dagegenwerfen und versuchen, sie einzureißen.

Ich hörte sie. Die Macht. Meine Macht. Sie schrie nach mir, so laut, dass sie alles andere zum Erliegen brachte. Mir wurde bewusst, ich musste nicht mehr gegen sie ankämpfen. Stattdessen könnte ich mich einfach mit ihr treiben, mich völlig von ihr Einnehmen lassen. Es würde niemandem stören, im Gegenteil. Wenn ich meine Macht wiederhatte, würde das nur Vorteile nach sich ziehen. Für alle.

Nein.

Nicht ganz.

Ich musterte Asir von Kopf bis Fuß und wusste, es war an mir, damit anzufangen, die Mauer zu zerstören. Wenn ich wollte, wenn er wollte, könnte ich sein Leben verlängern, wie das der Drachen. Es wäre nicht die Ewigkeit, aber immerhin eine lange Zeit. Aber würde das den Abschied am Ende leichter oder schwerer machen?

Ich könnte es. Ich hatte bereits als Sarah den Untergang eines Drachenkörpers gesehen, lange bevor ich überhaupt wusste, was es war. Vor der Höhle, als ich die Schuppe in der Hand hatte. Dort hatte ich meine eigene Stimme gehört, ohne sie zu erkennen. So unwissend, wie ich gewesen war.

Ich war in der Lage, alles zu tun. Alles zu erschaffen oder zu zerstören, was ich wollte. Ich.

Ich allein.

„Ich weiß, was du denkst. Du schreist es mir förmlich entgegen.“ Asirs Worte wankten, als würden sie betrunken über einen wackeligen Untergrund laufen. „Du solltest alles erstmal sacken lassen. In Ruhe nachdenken, so, wie du gesagt hast.“ Er rieb sich über die Stirn, als würde sein Kopf schmerzen.

Wieso sollte ich auf ihn hören? Wieso sollte ich mich mit ihm abgeben? Ihm, der meine Heimat besetzte. Der so winzig war im Gegensatz zu mir. Der mir nichts mehr zeigen konnte, was ich nicht sowieso schon wusste. Oder bald wissen würde.

Nichts konnte er mir bieten. Gar nichts!

Er war nicht mehr wichtig. Wichtig war nur, dass ich wieder ich wurde. Vollständig. Ich brauchte meine Macht. Alle Teile meiner Seele. Jetzt! Die Macht und ich riefen uns gegenseitig an, wie ein Chor erhoben sich unsere Stimmen, die sich vereinten und zu einer wurden.

Doch etwas stand im Weg. Jemand.

„Wo ist Arokin?" Die Frage war überflüssig. Ich müsste mich nur ausreichend konzentrieren, um ihn zu finden. Aber noch war ich dazu nicht in der Lage. Sarahs Gedanken blockierten mich. Ihre Gedanken an Asir blockierten mich.

„Du weißt, dass die Wächter nach ihm suchen."

„Ich werde ihn vor ihnen finden!" Ich schleuderte ihm die Worte entgegen. „Und wenn ich ihn gefunden habe, wird er bestraft für das, was er getan hat! So wie ihr alle, die ihr fälschlicherweise hier seid!"

„Du bist nicht mehr du selbst." Ich sah das Flehen in seinen grünen Augen. Es berührte etwas in mir, tief in mir. Ich schob es weg.

„Nein. Ich bin endlich wirklich ich!"

Vergiss nicht, wer du bist. Wer hatte diese Worte an mich gewandt? Es waren kleine Worte von einem kleinen Wesen, deren Echo in mir widerhallte. Es war egal. Alles war egal. Ich musste Arokin erreichen. Sofort. Mir wiederholen, was mein war.

Davor würde ich mir den Teil von mir wiederholen, der direkt hier auf mich wartete. Obwohl eine kleine Stimme immer lauter wurde. Eine Pflicht aus Sarahs Leben, die ich erfüllen musste, unbedingt. Doch eigentlich war es nicht wichtig.

Die beiden Stimmen fochten in meinem Inneren miteinander. Sie übertönten alles.

Worte wurden in der Wirklichkeit gesprochen. Worte, die mich nicht erreichten. Eine Berührung irgendwo an meinem Körper, die am Rande meines Bewusstseins stattfand.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt