-24- Von Säcken und Feuer I

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Doch als ich Sophie vor dem Klassenzimmer stehen sah, warf ich mein Vorhaben über Bord. Warum warten?

„Ich bin gleich wieder da, ihr könnt schonmal vorgehen.“ Das taten sie, obwohl ich spürte, wie meine Freunde mir mit ihren Blicken folgten. 

Ich ging auf Sophie zu und als sie mich bemerkte, traf mich ihr üblicher Blick. Die Nacktschnecke, auf die sie getreten war. Etwas daran war falsch, es tat fast weh. Ich hatte sie freundlicher erlebt, wusste aber nicht mehr, wo oder warum. Vielleicht würde sie mir das auch sagen können.

Die wenigen Schritte den Flur entlang kamen mir unglaublich lange vor. Es war still hier, die meisten waren schon in einem kleinen Nebengang und warteten dort darauf, dass die Tür zum Prüfungsraum geöffnet wurde. Außer mir und Sophie war niemand hier, wenn man den Hausmeister nicht mitzählte, der am anderen Ende des Flurs gerade irgendetwas reparierte. Selbst er war leise, lediglich das Scheppern der Werkzeuge hallte ab und an durch den Gang. Es kam mir vor, als hätte ich eine neue Welt betreten, abgekapselt von den anderen Schülern, aber auch von meinen Freunden.

„Was willst du?“ Sophie klang skeptisch, aber nicht so überheblich wie gewohnt. Mir fiel auf, wie sie von einem Bein auf das andere trat.

Tief holte ich Luft, bevor ich ihr meine Fragen stellte. „Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß nur, dass Arokin mit dem Traum oder was auch immer das war, dass er damit etwas zu tun hat. Und du.“ Ich hatte die ganze Zeit aus dem Fenster gesehen, in die Welt, in der Schüler ganz normalen Unterricht hatten. Kilometerweit von meiner entfernt. Beim letzten Satz sah ich sie an. „Ich bin mir sicher, dass es etwas zu bedeuten hat.“

Ihr Blick hatte zwischen Schock und einem gewissen Wiedererkennen geschwankt. Jetzt sah ich Tränen in ihren Augen schimmern. „Er hat mich entführt. Und alle anderen, die aus der Schule verschwunden sind“, sie flüsterte so leise, dass ich sie kaum verstand. „Ich bin auf ihn hereingefallen. An einem Nachmittag hat er mich in einen Wald geführt und dann … ich weiß nur noch, dass ich irgendwo gefesselt war und mir etwas verabreicht wurde … und dann war ich frei …“ Sie rieb sich ihre Handgelenke und auf einmal spürte ich es auch: Das Scheuern von Fesseln, die ins Fleisch schnitten.

„Die Polizei hat mich, uns, befreit. Vor einer Woche. Zum Glück kann ich hier sein. Ich versuche es zumindest.“ Sie sah immer noch unsicher aus, bevor sie an mir vorbei in den Raum ging. „Dann viel Glück."

Offenbar wollte sie nicht mehr darüber reden. Ich verstand es. Aber wie kann sie vor einer Woche von der Polizei gefunden worden sein? Arokin kam erst vor zwei Wochen her und letzte Woche habe ich Sophie doch noch gesehen… Oder etwa nicht? Ich vertraute meinem Urteilsvermögen nicht länger. Es war alles so verwirrend.  

Ich kramte mein Handy aus der Tasche und sah auf die Uhr. 07:44 Uhr. Vielleicht sollte ich auch langsam hineingehen. All das hatte mich kein Stück weitergebracht. Panik keimte langsam in mir auf. Hätte ich mich doch nur besser vorbereitet, anstatt zuerst meiner Trauer und nun einem dämlichen Traum nachzuhängen! Dafür war es jetzt zu spät. Jetzt würde ich es nehmen müssen, wie es kam.

Ich trat einen Schritt vor und konnte gerade noch verhindern, in jemanden zu rennen. Als ich den Blick hob, erkannte ich, dass es der Hausmeister war. Ich hatte nicht bemerkt, dass er zu mir gekommen war. Ich muss mich dringend mehr auf die Realität konzentrieren, dachte ich. Er funkelte mich durch seine Brille an. „Pass doch auf!“

„'Tschuldigung, aber ich habe es eilig.“ Ich wollte an ihm vorbei, doch er stellte sich mir in den Weg.

„Du kannst nicht davor wegrennen, Sarah. Egal, wohin du gehst.“ Ich sah ihn verdutzt an. Was war das denn jetzt? Er fuhr fort, hielt mich am Arm fest: „Nur du kannst alle retten. Und deswegen kommst du jetzt wieder schön mit mir mit.“

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt