-18- Von Bäumen und Dämmen II

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Ich spürte die Präsenz des Baumes in meinem Rücken.

Eine ganze Weile saß ich einfach da, blickte in den Himmel, an dem ein frohes Treiben herrschte: Mal flog ein Rabe auf den Baum zu und landete auf einem Ast, mal flog einer von ihm weg. Manche flogen so hoch, dass ich sie in der Dunkelheit lediglich als Schatten erahnen konnte, andere so tief, dass ich sie fast hätte berühren können. Manche verschwanden in dem Baum, aber nicht alle. Mich wunderte es nicht mehr. Immer wieder hörte ich ein Krächzen. Mir fiel auf, dass Arokin und Asir die einzigen Raben waren, die keine schwarzen Augen hatten. Es hatte bestimmt etwas mit ihrer Abstammung zu tun.

Viel schien es hier nicht zu geben. Den Fluss, den Baum. Und die Vögel. Dennoch wirkte alles vollständig, friedlich und harmonisch.

Die Gedanken, die ich hatte, passten nicht in diese harmonische Welt. Arokin hatte alles verraten, er hatte die Mädchen aus meiner Schule verschwinden lassen. Er hatte sie umgebracht. Was würde er als nächstes tun?

Ich sollte vorsichtig sein.

Noch dazu war da meine Schwester. Die Miron gefangen hatte. Damit er selbst so lange wie möglich an der Macht bleiben konnte. Hatte er am Ende dafür gesorgt, dass sie sich in Staub aufgelöst hatte? Um sie endgültig aufzuhalten? Es ergab Sinn. Aber was sollten wir gegen ihn ausrichten?

Hier spürte ich jedoch nichts von Olivia, obwohl ich tief in mich hinein horchte. Ich spürte die Präsenz von Asir und Pilkos, die der anderen Raben und Krähen, wenn auch nur als unscharfen Schemen. Und doch nahm ich nichts von dem fehlenden Puzzleteil wahr. Von meiner Schwester fand ich keine Spur. Sie war nicht hier. Wo war die dann? Wie sollten wir sie finden? War sie wirklich ein für alle Mal tot? Das konnte nicht sein. Das dürfte nicht sein.

Nach ein paar Minuten kam mir eine Idee. Asir hat gesagt, ich solle mich nicht bewegen, er hat nicht gesagt, dass ich meine Gedanken für mich behalten sollte. Wozu hatte er mir das schließlich gezeigt, wenn ich es nicht anwenden durfte? Ein kurzes triumphierndes Lächeln ergriff Besitz von mir, ehe es der Konzentration weichen musste.

Ich fokussierte mich und sandte meine Gedanken nach ihm aus. Zunächst fand ich ihn nicht. Es fühlte sich an, als würde ich antriebslos in einem unendlichen Meer treiben, ohne Ziel. So weit von dem Fluss entfernt, den ich suchte. Doch dann, zunächst undeutlich aber dann immer schärfer, spürte ich den Sog des Flusses, den ich suchte. Ein wenig schwamm ich in die Richtung, ein wenig trieb ich von ganz allein dorthin, doch am Ende war es egal, wie ich an die Flussmundung gekommen war. Ich kam nicht hinein. Als hätte Asir einen unsichtbaren Deich errichtet. Er verschloss sich vor mir.

Sehr witzig, dachte ich, erhielt aber keine Antwort. Jetzt wollte ich erst recht wissen, was da vor sich ging. Dieser Pilkos schien etwas vor mir verheimlichen zu wollen. Und das passte mir nicht. Nicht mehr. Nicht hier. Ich blieb hartnäckig und rüttelte an dieser Barrikade, die mich in den Fluss von Asirs Gedanken führen würde. Aber egal was ich versuchte, es gelang mir nicht sie einzureißen.

Und so versuchte ich etwas Neues. Ich hatte keine Ahnung, ob es funktionieren würde, zumal ich nicht wusste, wonach ich suchen musste. Es gab noch jemanden, bei dem ich es versuchen konnte.

Ich beschwor das Bild des schwarz-grauen Raben vor meinem inneren Auge herauf, der vor einigen Augenblicken vor uns gelandet war. Pilkos. Ich sah jeden einzelnen Buchstaben vor meinen Augen. Ich spürte ihn, wenn auch nur schemenhaft und nicht so stark wie Asir. Es genügte. Ein weiterer Strom lud mich dazu ein, ihm zu folgen. Ich ließ mich darin treiben. Er befand sich direkt neben Asirs Fluss. Aber da war keine weitere Mündung, lediglich der Strom. Ich beschwor das Bild seiner schwarzen Augen in meinen Gedanken. Pilkos' Fluss grub sich daraufhin in mein Bewusstsein, als würde ein neues Flussbett ausgehoben werden. Sein Fluss war nicht von einem Damm umgeben und so konnte ich einfach darin schwimmen.

~•~

Dieser Körper fühlte sich sehr fremd an. Nicht passend und doch war ich ihm schon einmal begegnet. Wie ein altes, zu klein gewordenes Kleidungsstück, das man nach langer Zeit wieder anzog. Auf irgendeine Weise. Irgendwann. Ich blickte durch die Augen eines anderen, sah Asir gegenüber von Pilkos auf einem Ast sitzen. Dieser beäugte ihn mit schiefgelegtem Kopf.

„Was willst du damit sagen?" Die Worte kamen aus meinem Mund. Aus Pilkos' Mund.

„Ich sage dir, dass Arokin die Macht haben will. Und wir beide wissen, dass es ihn umbringen wird." Asir sah sich um. „Er scheint vor nichts zurückzuschrecken, um sein Ziel zu erreichen." Er erzählte Pilkos von dem, was vorgefallen war. „Wir müssen herausfinden, wo er ist. Viele unserer Wächter haben sich ihm angeschlossen..."

„Dann ist es umso wichtiger, dass du zurückkommst. Ich kann diesen Ort hier nicht halten. Schon gar nicht, wenn ein Angriff bevorsteht. Du musst deinen Platz einnehmen. Jetzt!" Ich spürte das Drängen in seiner Stimme, die Dringlichkeit dessen, was er sagte. Und doch begriff ich es nicht ganz.

„Ich kann nicht."

„Warum nicht? Es steht dir zu. Das ist deine Aufgabe. Jeder weiß das, nur du nicht. Ich werde es nicht mehr lange überleben. Das ist der Preis, den man bezahlen muss. Schenke mir noch ein wenig mehr Lebenszeit, wenn du es schon nicht aus eigenem Antrieb tust!" Die Situation brachte mich dazu, still und heimlich über das Wort Aufgabe nachzudenken. Aufgabe. Von aufgeben? Die Aufgabe des selbst, um etwas bestimmtes zu tun. Es klang bedrohlich. Ich begrenzte meine Gedanken und konzentrierte mich wieder auf das, was ich sah und hörte.

„Weil ich diese Verantwortung nicht möchte. Weil Sarah und ich zuerst die neuen Götter finden müssen. So lange musst du durchhalten." Er sah in die Ferne und seine grünen Augen glitzerten, was durch das Schwarz seiner Federn noch betont wurde. Es schien, als würde er etwas oder jemanden suchen. Etwa mich? Hatte er gespürt, dass ich versucht hatte, in seine Gedanken zu gelangen? Ich ging davon aus und so versuchte ich, meinen Geist tief unter der Wasseroberfläche zu halten, zog mich so weit wie möglich zurück, als die Unterhaltung fortgeführt wurde.

„Sie ist auf jeden Fall nicht nur ein dahergelaufener Mensch...", ich konnte seine Skepsis fühlen.

„Nein, das ist sie nicht", er hörte auf zu suchen und sah sein Gegenüber eindringlich an. Oder sah er mich? So unverwandt, wie mich dieser Blick traf, war ich mich sicher. Ich war schon im Begriff zu verschwinden, als mich ein Satz zum Innehalten brachte.

„Du glaubst, sie ist das, was wir brauchen? Worauf wir so lange gewartet haben?"

„Ich glaube es nicht nur, ich bin mir sicher. Von Anfang an war ich mir sicher. In ihrem Blut ist die Antwort. Am Anfang war sie niemand, jetzt ist sie jemand. Das ist es zumindest, was sie sich sagt. Dabei war sie schon immer jemand. Sarah hat eine Verbindung zu diesem Ort. Wenn ich schon meinen Platz einnehmen muss, soll es meine erste Handlung sein, ihr alles zu erklären. So, jetzt weißt du, was ich über dich denke und kannst wieder verschwinden. Bevor ich ihn auch noch töten muss. Diesmal weißt du, wie du zu dir zurückkommst."

Eine unangenehmes Gefühl durchfuhr meine Gedanken. Am liebsten wäre bis auf den Grund dieses Flusses gesunken. Wie war ich auf die Idee gekommen, unbemerkt lauschen zu können?

Ich verschwand aus Pilkos' Kopf, schwamm gegen die Strömung und kam schließlich wieder bei mir selbst an.

Noch immer saß ich neben dem Baum. Vorsichtig wackelte ich mit meinen Füßen und Händen, um wieder bei mir selbst anzukommen.

Ich blinzelte und stellte fest, dass ich jetzt mehr Fragen hatte als jemals zuvor.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt