-34- Von Gefängnissen und neuen Perspektiven I (zensiert)

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Die unterschiedlichsten Emotionen rannten über ihr Gesicht. Verwirrtheit, die ihre Augen hektisch hin und her huschen, sie nach einem Orientierungspunkt suchen ließ. Verzweiflung und Trauer, die sich um ihren Mund herum verfestigten und ihn zugleich zittern ließen. Das Widerstreben gegen das, was sie tat, spiegelte sich in ihren Schritten, die wirkten wie fremdgesteuert. Ihre Bewegungen waren ruckartig, als wäre sie ein Roboter. In ihrer Hand hielt sie den Dolch. Ein weiterer Blitz erhellte die Umgebung, das Licht brach sich für eine Sekunde auf der Klinge. Ein düsteres Versprechen. Unheilvoll.

Ich spürte, wie etwas in mir ins Wanken geriet. Es gelang Sarah tatsächlich, sich wieder zu erheben und mich zu unterwerfen. Würde ich nun sterben müssen, obwohl ich es nicht konnte? Wobei Sarah immer noch in mir ist. Sie kann sterben, obwohl sie bereits nichts weiter als ein Häuflein Elend ist. Und doch war es dieses Häuflein Elend, das mich nun unter sich verschüttete. Er hatte mir von Anfang an gesagt, er würde mich zu Olivia führen. Das hatte er getan, wenn auch anders als gedacht. Zwischenzeitlich hatte ich dieses Versprechen vergessen, bei all dem, was kam. Mit der falschen Prophezeiung, die er gestreut hatte, um mich abzulenken. Es war ihm zu gut gelungen. Er hielt sein Versprechen, das musste ich ihm lassen. 

Sie kann mich nicht töten. Nicht alles von mir. Der Gedanke hatte keinen Bestand gegen das, was Sarah empfand. Vielleicht kann sie es doch. Immerhin hat der Dolch mich einmal auseinandergerissen ...

Olivia lief auf mich zu, den Dolch hielt sie vor sich. Nicht, als wolle sie mich damit angreifen, sondern eher wie etwas Heiliges, das sie mir präsentierte. Ich sollte sehen, wer mir den Tod mit welcher Waffe brachte.

Der Widerwillen schlug mir entgegen. Sie schrie es förmlich, auch wenn kein Laut über ihre Lippen kam und kaum eine Regung davon zeugte. Ich hörte es dennoch, ihre Empfindungen waren meine. Weil wir eins waren.

Eine Verzweiflung, so tief, wie die tiefste Schlucht auf diesem Planeten. Und noch viel tiefer. Traurigkeit, dass ich sie nun endlich wieder bei mir hatte, aber nicht so, wie ich wollte. All das überrumpelte mich in Gestalt eines Schnellzuges, der mich überrollte und unter sich im Kiesbett begrub.

Sie tat das alles nur, weil er es wollte. Dabei spielte das, was sie wollte, nämlich wieder zu mir kommen, wieder eins werden, keine Rolle. Ich spürte ihre Sehnsucht, die an ihr zerrte, die an mir zerrte. Es war unmöglich, dass wir uns so nahekamen, wie wir wollten.

Wie machte er das? Trotz allem war ich von dieser Leistung beeindruckt.

Und noch etwas anderes wurde mir klar.

Der letzte Teil meiner Seele war hier. Jetzt konnte ich sie mir nehmen. Ganz einfach. Ich müsste nur die Hand nach ihr ausstrecken und dann ... kann ich ihn aufhalten!

Ich versuchte, sie innerlich zu erreichen. Ich konnte nicht. Ich war Wasser, das gegen eine Staumauer brandete. Keine Chance, die Stadt, die dahinterlag, zu erreichen. Stattdessen schlug mein Geist mit der Energie, die ich dafür hatte einsetzen wollen, diese Mauer einzureißen, in mich zurück. Ich schlug selbst hart gegen mich. Einen Moment war ich benommen.

Wenn ich sie auch gedanklich nicht erreichte, so kam Olivia körperlich zu mir.

Durch die Benommenheit nahm ich es erst mit Verzögerung wahr. Wie aus weiter Ferne bemerkte ich, dass sie mit dem Dolch in meine Richtung hieb, doch sie hielt inne, bevor sie mich erreichte.

Der Vorgang genügte, damit ich stolpernd zurückwich. Nie wieder wollte ich diese Klinge auf meiner Haut oder gar in mir spüren. Sie führte einen Hieb nach dem anderen, ohne mich zu treffen, doch immer so nah an mir vorbei, dass ich den Dolch spürte. Das tat sie so lange, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Direkt dort, wo die Familienfotos hingen. Die Wand ragte hart und kalt gegen meinen Rücken.

Mein Mund war trocken, meine Beine zitterten und es war mir unmöglich, den Blick von ihr abzuwenden. Ich wusste nicht, was ich von diesem Zusammentreffen mit Mocurix erwartet hatte, aber dass er mich gegen mich selbst kämpfen ließ sicher nicht.

Mein Gesichtsfeld verkleinerte sich, war umgeben von einer schwarzen Umrandung, die sich um Olivia ausbreitete. Nichts anderes gab es mehr, außer sie. Außer mich. Ich sah sie an und war schockiert, als ich weitere Emotionen in ihrem Gesicht ablas. Sie waren verborgen, so wie das, was sie seit ihrem Tod erlebt hatte. Hinter einem Nebel, den ich nicht durchdringen konnte. Ein ganzes Leben, das mit verborgen blieb. Einem Teil von mir stieß dieses Wissen sauer auf, denn es sollte nichts geben, das sie vor mir verbarg. Nichts, das ich vor mir selbst verbarg. Doch ich wusste nur zu gut, dass das nicht möglich war.

Wut und Hass. Die beiden blitzten mir entgegen, genauso wie mein Dolch, den sie nun erhob, als plane sie, ihn gleich auf mich niedersausen zu lassen. Nichts davon ging von ihr, von mir, aus. Ich wusste es. Er hatte sie noch mehr unter Kontrolle, als es ihm bei mir gelungen war. Oder? Vielleicht ließ er sie etwas gänzlich anderes sehen. Nicht mich, sondern jemanden, den sie abgöttisch hasste. Vielleicht sogar ihn selbst? Eine Gänsehaut breitete sich über meine Haut aus, als ich versuchte, einen Gedanken an sie zu schicken.

Ich breche den Bann, den er über dich gelegt hat. Du wirst nicht so enden wie Arokin! 

Es war nicht sie, die antwortete.

Wie genau stellst du dir das vor? Du hast keinerlei Macht, schon gar nicht über mich, du besitzt nichtmal deine eigene. Du kannst diesen Bann nicht brechen. Du kannst nichts gegen sie tun. Wenn du Olivia etwas antust, verletzt du dich nur selbst. Du kannst nichts gegen dich tun. Ich sah Mocurix' Grinsen in meinen Gedanken. Leider hatte er ein weiteres Mal recht. Dumm war er nicht. Das war er nie.

Ich aber auch nicht. Wenn ich es schaffte, den Dolch an mich zu reißen, würde ich ihn zersplittern lassen, so, wie er es mit mir gemacht hatte.

Der Plan zerfiel jedoch, als ich jene Waffe an mir ruhen spürte. Schließlich stieß sie in mich.  Olivia weinte. „Ich wollte das nicht. Ich wollte nichts hiervon." 

„Ich weiß." Wir waren nicht eine Seele, die in zwei Körpern war. Wir waren keine Göttin. Wir waren zwei Schwestern, die sich gegenseitig umbrachten. Es war die einzige Möglichkeit, wie Götter richtig sterben konnten: Indem sie ihrem Leben selbst ein Ende setzten. So, wie Miron, auch wenn er nicht so mächtig war wie Mocurix oder ich. Oder eher wie er, zumindest im Moment. 

Ich war erstaunt, dass ich noch lebte, noch in diesem Körper war, als die Klinge aus meinem Körper verschwand.  Und erleichtert. Schmerz begann, sich in meine Wahrnehmung zu schleichen. Es kam nicht dem Schmerz gleich, den ein Mensch verspüren würde. Und doch tat es das gleichzeitig. 

Ihr Gesicht verzerrte sich zu einem diabolischen Grinsen, als sie die Waffe erneut in meinem Körper versenkte, diesmal mit mehr Schwung. Das Grinsen war falsch, war es doch von echter Trauer überschattet. Er ließ sie langsam wieder fühlen, wie sie es in Wahrheit tat. 

Das war die Waffe, die mich schon einmal aus mir Selbst geschickt hatte, die Olivia umgebracht hatte. Sie war mächtig. Aber ich hielt stand. Noch. 

Olivia bewegte die Waffe nicht vom Fleck.

Gleißender Schmerz brannte durch mich. Breitete sich aus meiner Mitte bis in meine Fingerspitzen, von Kopf bis Fuß, aus.

Meine Beine gaben mit einem Mal nach, sie waren nicht mehr fähig, mich zu halten. Ich sank an der Wand entlang zu Boden. Mir war bewusst, dass ich mich nicht mehr würde aufrappeln können. Es war grotesk. Immerhin war ich nicht Sarah und doch besiegte sie mich in diesem Moment. Sie wurde von ihrer Schwester besiegt. Ich von mir selbst.

Ein Stechen. Ein Pochen. Ein nicht enden wollender Schmerz. 


Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt