-6- Von einer alten Bekannten und einem neuen Dorf

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Zuerst sah ich nichts. Aber es roch nach Wald und ich spürte warme Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Mein Kopf schmerzte. Dann, langsam, klärte sich mein Blickfeld und ich konnte verschwommen sehen. Ich saß auf einer Wiese, die von Bäumen umsäumt war. Grün. Alles um mich herum schien grün zu sein. Was war passiert?

„Jetzt wirst du finden, was du suchst." Die Stimme kam mir vage bekannt vor, aber ich konnte nicht sagen, zu wem sie gehörte.

„Alles okay? Du siehst ein wenig ... mitgenommen aus."

Ich saß auf einer Lichtung im Wald... Moment, diese Stimme...

„Alles okay?", schon wieder. Aber jetzt konnte ich sie zuordnen. Asir. Der Name sprang plötzlich in meine Gedanken. Allerdings wusste ich immer noch nicht, wer er war oder woher ich diesen Asir kannte. Und sehen konnte ich ihn ebenso wenig.

„Hat es dir jetzt die Sprache verschlagen? Das kann ich verstehen. Ich lasse dir einen Moment Zeit und komme dann gleich wieder. Jetzt muss ich etwas erledigen.
Sieh dich ruhig um, aber lauf nicht zu weit weg! Ich muss dich schließlich wiederfinden und ich möchte nicht, dass dir an deinem ersten Tag hier etwas passiert."

Ich konnte immer noch niemanden sehen. Es war eine körperlose Stimme. Das weckte die Erinnerung. Vor nicht allzu langer Zeit war ich vor dieser Stimme geflüchtet, einfach, weil der Moment gruselig gewesen war.

Um mich herum herrschte nun absolute Stille. Die Sonne schien, was ich als ein gutes Zeichen ansah. Dann würde jetzt alles gut werden. Das redete ich mir zumindest ein. Langsam konnte ich mich wieder erinnern und die Kopfschmerzen verschwanden.

Ein Traum. Etwas Anderes konnte es damals nicht gewesen sein. Ich war schließlich auf meinem Balkon eingeschlafen. Und etwas Anderes konnte es jetzt auch nicht sein. Aber jetzt fühlte ich mich wie ich selbst, nicht wie jemand anderes. Das hier fühlte sich real an, in jeder Hinsicht.

Naja, was auch immer das hier ist. Er hat gesagt, ich soll mich umschauen und genau das werde ich jetzt tun. Was kann schon passieren? Vor allem, da es ja nur ein Traum ist.

Bist du dir da sicher?, da war sie wieder, diese Stimme. Diesmal hörte ich sie nicht. Sie schien sich direkt in meinem Kopf zu befinden. In diesem Moment flog ein großer Schwarm Raben aus den Bäumen auf. Für kurze Zeit verdunkelte sich die Welt, sie bestand nur noch aus schwarzen Körpern, die laut krächzten und nach und nach davonflogen.

Ich lief mit einem mulmigen Gefühl in Richtung des Haines.

Immerhin war der Wald nicht mehr dunkel. Als ich ihn betrat, erfüllte das Zwitschern von Singvögeln meine Ohren.

***

Nach einiger Zeit, ich konnte nicht genau sagen, wie weit ich gelaufen war, kam ich aus dem Wald heraus und stand vor einem sanften Abhang. Am Ende des Hangs, ungefähr einen Kilometer von hier entfernt, sah ich ein kleines Dorf, das an einem Fluss lag. Aber die Häuser schienen aus einer anderen Zeit zu sein. Sie hatten Strohdächer, wie ich von hier zu erkennen glaubte. Der Fluss, der hinter dem Hügel, auf dem ich mich befand, hervorkam und an dem Dorf vorbei ziemlich gerade bis zum Horizont verlief, reflektierte die Sonnenstrahlen.

Wie wunderschön es aussah. Diesen Anblick saugte ich tief in mich auf, wollte ihn für immer in Erinnerung behalten. Diese grasbewachsenen Hänge und das Gebirge am Horizont erinnerten mich an Irland. Das Gras hatte so ein besonderes, saftiges, grün. Der Himmel war von klarem Blau, die Sonne strahlte und ich konnte einen leichten Hauch von Salz in der Luft schmecken. Das Meer konnte nicht allzu weit entfernt sein.

Ein letztes Mal holte ich tief Luft, bevor ich mich auf den Weg in Richtung Dorf machte. Als ich den Hügel hinunterging, kamen alle meine Erinnerungen wieder. Der neue Mitschüler, Arokin. Sophies Verschwinden kurz nachdem er aufgetaucht war. Der Brief meiner Schwester, der verbrannt war und von dem nichts als Asche und, scheinbar, eine Feder übriggeblieben war. Die Polizei in der Schule. Dass Asir einfach so bei mir aufgetaucht war und mich nach seinem Bruder gefragt hat. Der kleine Rabe, der aus meiner Schublade geflogen kam, in die ich die Feder zuvor gelegt hatte. Die dunkle Welt und die bunten, ineinander fliegenden Vögel.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt