-17- Von Karusellen und Kronen II

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Asir brachte mich dazu, so lange zu üben, bis ich nicht mehr unwillkürlich von dem Strom mitgerissen wurde, sondern es mir gelang, mit der Strömung zu schwimmen und die Kontrolle zu behalten. Jetzt war mir eine normale Unterhaltung möglich, die ich anfangen konnte und ich für das Aufbauen der Verbindung keinen Augenkontakt mehr brauchte. Es reichte, wenn ich mir Asir vorstellte. Laut ihm könnte ich dasselbe Prinzip ab jetzt auf so gut wie jede Person in meiner Umgebung anwenden. Zumindest was das Reden in Gedanken betraf. Das tatsächliche Gedankenlesen ginge nur bei Individuen, mit denen ich eine starke Beziehung führte. Wenn sie mich einließen.

Das alles hatte drei Tage in Anspruch genommen. Immer wieder mussten wir Pausen einlegen. Schließlich zeigte er mir noch, wie ich mich gegen fremdes Eindringen schützen konnte. Das war mir leichtgefallen, hatte ich doch lange mit einer Mauer um mich herum gelebt. So ähnlich funktionierte das hier auch. Ich lernte, zu erkennen, wann Asir in meine Gedanken kam und schließlich konnte ich ihn abblocken. Sobald ich den Anflug des vertrauten Kribbelns spürte, musste ich einfach meine alten Mauern wieder hochziehen, hinter denen ich so lange gelebt hatte. Und doch war es nicht das Gleiche. Es war eine andere Art von Mauer. Wenn der Unterschied zu meinen alten Mauern auch gering war. Es war ab jetzt eine Mauer aus Stein statt aus Beton, das Prinzip war das Gleiche. Niemand würde an ihnen vorbeikommen.

Ich erzählte von meiner Begegnung mit Olivia. Auch davon, dass sie sich aufgelöst hatte.

„Vielleicht ist das nur die richtige Form, um ihre Bestimmung zu erfüllen, wenn sie wirklich eine neue Göttin ist." Er war davon wirklich überzeugt, das spürte ich.

„Wir müssen sie wiederfinden! Ich habe sie hier immer gespürt, wenn sie in der Nähe war. Das wird noch immer so sein, oder?"

„Vielleicht."

Immer wieder kamen Raben zu uns, mit denen Asir sich unterhielt, bevor sie wieder weiterflogen. Einmal kam mir dabei ein völlig neuer Gedanke. Wenn all das, was ich suchte, hier zu finden war? Eine Heimat, eine Gesellschaft, Freundschaft oder gar mehr als das. Nein, es war nicht unbedingt ein guter Gedanke. Aber was würde passieren, wenn ich meine Aufgabe erfüllt hatte? Sollte ich einfach so weiterleben wie bisher? Würde ich mich an irgendetwas von dem hier erinnern? Oder einfach in meinem Bett aufwachen als wäre nie etwas geschehen?

Nachdem der Rabe an diesem Tag wegflog, kam Asir zu mir und sagte: „Brinjir ist gefunden worden. Arokin hält ihn bei sich fest.“ Wieder saßen wir bei einem Feuer. Es wäre nicht nötig gewesen, war es weder kalt noch dunkel. Dennoch war ich froh darum, es vermittelte mir ein Gefühl von Geborgenheit.

„Warum das denn?“ Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen.

„Er wird sich einen Nutzen davon versprochen haben. Immerhin hat er Zeichen von den Göttern empfangen. Und es gibt da etwas, was wir euch bisher nicht erzählt haben … Vor langer Zeit hatte Birinjir mal die Aufgabe, über die Macht zu wachen.“ Er stocherte mit einem Stock in dem Feuer, das vor uns brannte. „Ja, ich weiß, das tut jeder Rabe. Mehr oder weniger. Auch unter uns gibt es eine Hierarchie. Meine Familie stand immer an der Spitze, wir waren verantwortlich dafür, dass niemand nach Lihambra kommt. Und dafür, dass sich niemand, außer die Götter, an der Macht bedient. Dafür, dass jeder der Raben seine Aufgabe erfüllt. Irgendwann ging es nicht mehr und Pilkos hat auf die Macht aufgepasst. Vorher haben meine Eltern ihm ihr Wissen weitergegeben. Das haben sie immer bei den Ältesten, das waren Birinjir und Pilkos. Sie fungieren sozusagen als Sicherheit …“

Seine Worte brachten mich dazu, aufzuhorchen. „Aber er ist doch ein Mensch, wie kann er dann… ist er doch, oder? Und was ist mit deiner Familie passiert?“

Er hielt in der Bewegung inne und starrte in die Flammen. „Niemand hat gesagt, dass er immer ein Mensch war. Es gab eine Zeit, da war auch Birinjir ein Machtwächter. Aber er hat seine Aufgabe aufgegeben, um ein Mensch zu werden. Er wurde nicht von der Macht verführt.“ Meine andere Frage blieb unbeantwortet. Ich spürte, dass etwas passiert war und erinnerte mich an den Stich, den ich gespürt hatte, als er mir davon erzählte, was passiert war, während ich Olivia gesehen hatte. Nochmal nachfragen wollte ich nicht.

Er riss seinen Blick von den Flammen los und sah mich von der Seite an. „Wie auch immer. Ich schulde dir noch etwas. Ich denke, jetzt ist es sicher genug, die Macht wieder zu benutzen. Lass uns endlich nach Lihambra gehen. Und dann herausfinden, wer die neuen Götter sind. Lass uns meinen Bruder aufhalten. Diese Macht voll zu nutzen ist sein Todesurteil, auch wenn er es nicht erkennt. Er kann nichts dafür, er wurde lediglich verführt. Und dann lass uns Miron suchen und ihm sagen, dass es eine schlechte Entscheidung war, sich mit uns anzulegen, als er Olivia entführte.“ Seine Augen funkelten, nicht gefährlich, sondern aufgeregt, er wirkte fast wieder wie er selbst. 

„Ob es so eine gute Idee ist, sich mit einem Gott anzulegen?“ Aber vielleicht hatten wir eine Waffe, die ihn besiegen konnte. Warum sollte er Olivia gefangen nehmen, wenn von ihr keine Gefahr ausging? 

Asir rückte näher zu mir. „Lass mich nochmal sehen, sicher ist sicher."

Als er die Decke wegzog und die Hand neben die Wunde legte, biss ich die Zähne zusammen. Es tat so weh, dass ich kurz das Gefühl hatte, wieder zu sterben. Ich wusste, dass er helfen wollte, deswegen versuchte ich, nicht zusammenzuzucken. Es gelang mir nicht. Im nächsten Moment war der Schmerz verschwunden und ein warmes Gefühl folgte.

Er ließ seine Hand einen Moment liegen, dann zog er sie weg. Ich erlaubte mir das gedankliche Bedauern dieser Handlung nur kurz, könnte er es doch vielleicht hören, wenn ich die Vorstellung nicht richtig weggeschlossen hielt. „Jetzt sollte es ungefährlich sein. Der Magievorrat ist wieder aufgefüllt und du bist geheilt." Er stand auf und lief davon. Er bedeutete mir, ihm zu folgen. Zögerlich wackelte ich mit dem linken Bein. Es tat immer noch nicht weh. Ich wagte einen Blick zu der verletzten Stelle. Keine Schramme war mehr zu sehen. Auch, wenn es mich vielleicht nicht mehr überraschen sollte, tat es das doch.

Ich stand auf und folgte ihm. Fast so, als wäre nie etwas passiert. Doch es fühlte sich seltsam an, nach fast einer Woche das erste Mal wieder zu laufen. Ungewohnt. Fremd.

„Was ist mit den Pferden?“ Der Gedanke war schon lange in meinem Kopf, aber als Asir mit dem Training angefangen hatte, hatte das dafür gesorgt, dass dieser Gedanke in meinem Bewusstsein weit nach hinten rutschte.

Er sah zurück und wartete auf mich. Als ich ihn eingeholt hatte, sagte er: „Sie werden zurechtkommen. Aber wenn wir sie mitnähmen, würden sie das nicht überleben.“

„Aber..."

„Die Leute in Drosk wussten, dass sie die Pferde vielleicht nicht wiedersehen. Sie werden sich neue besorgen." Mein Einspruch wurde erstickt, bevor ich ihn richtig erheben konnte.

„Du wirst sie bestimmt wiedersehen.“ Er lief weiter, dabei fiel mir auf, dass er ein sauberes Hemd trug. Wann hatte er es gewechselt? Aber es war gut, dass es sauber war, denn das hieß, er war nicht mehr verletzt. Das Glück schien uns nicht verlassen zu haben.  Natürlich nicht, sonst könnten wir nicht reisen, dachte ich.

Wir liefen tiefer in den Wald, bis wir vor einem Baum standen. Genauer gesagt waren es zwei Bäume, deren grasartige Kronen sich ineinander verflochten hatten, sodass nicht mehr zu erkennen war, wo der eine Baum anfing und der andere aufhörte. Sie teilten sich eine Krone. Das Licht, das durch sie hindurchschien, war grün, strahlte eine angenehme Wärme aus und schien süß zu duften.

Ich blieb stehen, denn ein beunruhigender Gedanke kam in mir auf. „Was ist, wenn ich es auch nicht überlebe?“

Asir stand unter der Krone, die sich über den Pfad spannte. „Wenn ich dich damit ernsthaft in Gefahr bringen würde, würde ich dich nicht mitnehmen. Vertrau mir.“ Das tat ich und fand es nicht mehr überraschend. „Dein Blut ist anderes. Irgendwie ist es mit dieser Welt hier verbunden. Aber lass uns nicht noch mehr Zeit verlieren!“ Er streckte mir die Hand entgegen.

Ich warf einen Blick in den Himmel, dann lief ich in Asirs Richtung und ergriff seine Hand. Ich wollte ihn noch fragen, was er mit diesen Andeutungen meinte. Ich kam nicht mehr dazu. Stattdessen verlor ich die Orientierung und es fühlte sich an, als würde uns der Erdboden verschlucken.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt