Es gab nichts mehr, außer diesem Licht. Ich hörte auf zu atmen, als ich Olivia in diesen Strahlen erkannte. Es war egal, dass ich lediglich ihre Umrisse sah. Sie war es, eindeutig. Es hatte tatsächlich funktioniert.
„Du hast es also geschafft, mich zu befreien! Vorher konnte ich zwar ab und an aus meinem Gefängnis entwischen, aber Nuria nicht verlassen. Ich danke dir! Jetzt kann ich endlich gehen."
„Was meinst du damit, gehen? Jetzt, wo wir uns haben."
„Es liegt nicht an dir. Aber ich will jetzt an den Ort, an den Seelen gehören. Und das ist nicht hier."
„Aber ich dachte..." Ich wurde laut, auch wenn ich mir nicht vorgestellt hatte, was jetzt passieren sollte. Ich wusste es nicht. Aber die Mischung aus Enttäuschung, Wut und Trauer darüber, dass sie nun wieder verschwinden wollte. Wie konnte sie so etwas sagen? War ich ihr etwa so unwichtig?
„Es tut mir leid, dass ich dich damals nicht reingelassen habe, okay? Aber es war ein schlechter Moment." Meine Schwester ging nicht auf meinen Ausbruch ein, sondern versuchte, das Thema zu wechseln. Dummerweise gelang es ihr.
„Ich wollte dir nur helfen. Du sagtest, du hättest Probleme..." Ich wurde ruhiger.
„Und die hatte ich. Aber wenn du dazugekommen wärst, hätte es nichts geändert. Du solltest dort nicht mit hineingezogen werden. Ich musste doch auf dich aufpassen."
„Wo sollte ich nicht hineingezogen werden?" Ein ungutes Gefühl beschlich mich.
„Wie ich dir gesagt habe, hat mich mein Lebensstil in Schwierigkeiten gebracht." Sie klang bedauernd.
„Hattest du Drogenprobleme oder so etwas? Depressionen? Warst du deswegen so anders?"
Sie schwieg. Dann sah es aus, als wollte Olivia etwas sagen, doch sie blieb stumm. Ich nahm es als Antwort.
„Warum hast du dir nicht helfen lassen?"
„Als ich die Schwierigkeiten erkannt hatte, war es schon zu spät. Ich habe mich also irgendwie selbst umgebracht, aber irgendwie auch nicht. Es war...das, was ich mir in diesem Wahn gesagt habe...Dass nichts mehr geändert werden kann."
Jetzt war ich es, die schwieg. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Olivia solche Art von Problemen gehabt hatte. Aber sie hatte sich in dieser Zeit verändert, auf eine schlechte Art. Ihr Blick war leer gewesen. Es wäre eine Erklärung, auch für ihr Verhalten, für alles. Die Wut verpuffte, die Trauer und die Enttäuschung gewannen. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.
„Sei schlauer als ich und pass gut darauf auf, wem du dein Vertrauen schenkst! Aber ich denke, das tust du." Nun lächelte sie. „Und jetzt, rettet Sophie, okay?"
Mir entfuhr eine Mischung aus Lachen und Weinen. Olivia kam auf mich zu und umarmte mich. Ich war erstaunt, dass ich die Umarmung spüren konnte. Diesen einen Moment saugte ich in mich hinein wie ein Schwamm das Wasser. Er sollte für immer in meinem Gedächtnis bleiben. Ich nahm mir vor, ihn nie wieder zu vergessen.
„Ich war immer nur dazu da, um auf dich aufzupassen, weißt du? Aber jetzt kannst du das selbst. Wir sehen uns wieder, eines Tages." Wir hielten uns noch immer gegenseitig fest und hörte ich nicht nur was sie sagte, sondern ich spürte es auch. Ich fühlte die Vibration ihrer Worte unter meinen Händen und die Bewegung ihres Kiefers an meiner Wange.
Und vielleicht war es diese Vertrautheit, die mich dazu brachte, die Frage zu stellen, die mich schon so lange beschäftigte. „Bist du es oder nicht?" Die Worte kamen leise über meine Lippen.
„Was?"
„Eine neue Göttin."
„Es ist deine Aufgabe, das herauszufinden. Nicht meine." Dann, langsam, löste sie sich von mir, sodass wir Auge in Auge gegenüberstanden. „Ich habe eine andere Aufgabe und dank dir kann ich sie jetzt erfüllen." Bei dem letzten Satz huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, wie ich es noch nie gesehen hatte. Etwas Kaltes lag darin. Nicht nur in ihrem Lächrln, sondern auch in ihren Augen.
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Lihambra - Geheimnis der Raben
FantasySarah hat es in ihrem Leben nicht leicht. Nach dem Tod ihrer Schwester wird sie immer wieder von der Trauer eingeholt. Aber all das rückt in den Hintergrund, als wenige Tage vor ihrem Schulabschluss ein neuer Schüler in die Klasse kommt. Zeitgleich...