Lihambra - Geheimnis der Raben

-1- Von Gräbern und Festungen II

In der ersten Stunde stand Englisch auf dem Stundenplan. Wir setzten uns auf die Plätze im hinteren Teil des Zimmers und schon kam die Lehrerin, Mrs. Green, durch die Tür. Sie war gebürtige Engländerin und, meiner Meinung nach, ziemlich speziell.

„So", das wurde Englisch gesprochen, bevor sie ins Deutsche wechselte, „gleich kommt jemand Neues in die Klasse. Er wird für die letzte Zeit herkommen, da er umgezogen ist. Den Rest kann er euch selbst erzählen. Also, wenn er kommt. Normalerweise sollte er schon hier sein...Ich wusste bis heute Früh auch noch nichts davon. Schien wohl eine spontane Entscheidung gewesen zu sein. Naja... Dann fangen wir einfach schonmal an. Wenn er dann doch kommt, kann er sich in der Pause vorstellen. Ich würde mich schämen, wenn ich an meinem ersten Tag zu spät kommen würde. Aber uns ist jetzt schon genug Zeit verloren gegangen. Also fangen wir mal an. Wo waren wir letztes Mal?"

Das war typisch Mrs. Green. Stundenlange Monologe halten und sich dann darüber beschweren, dass die Unterrichtszeit zu knapp bemessen war.

„Haha, siehst du, ich hatte Recht!", triumphierte Ben leise, während der Unterricht anfing. Als Neffe des Sportlehrers war es auch kein Wunder, das er darüber Bescheid gewusst hatte. „Er soll übrigens Arokin heißen."

„Also ich finde, ohne ihn zu kennen, dass dieser...Arokin, also, je mehr man über ihn erfährt, desto seltsamer wird er. Und der Name ist auch...außergewöhnlich." Während Henry flüsterte, schrieb Mrs. Green etwas an die Tafel. Es quietschte leise und Kreidespäne rieselten nach unten. Sie interessierte es nicht, ob die Schüler in ihrem Unterricht aufpassten.

„Das ist eure eigene Verantwortung. Und solange ihr niemanden dabei stört, ist das für mich absolut okay. Dann... wie sagt man? Schneidet ihr euch nur ins eigene Fleisch", sagte sie immer.

Ich fand das alles auch sehr merkwürdig.

Den Rest der Stunde konzentrierte ich mich. Oder versuchte es zumindest. So richtig gelang es mir nicht.

***

Der Tag war fast vorbei, als sich die Tür des Klassenzimmers doch noch öffnete. Herr Müller schrieb gerade eine Matheformel an die Tafel. Er sah mehr als erstaunt aus, als die Tür aufschwang. In seinem Unterricht! Noch dazu hatte, wer auch immer dort stand, es nicht einmal für nötig gehalten, anzuklopfen.

„Sagen Sie mal: Wer sind Sie und was machen Sie in meinem Unterricht? Haben Sie sich verlaufen?" Er schrieb weiter, während er redete, klang genervt.

„Ich bin hier schon richtig. Das hier ist doch der Kurs von Herrn...Müller."

Ich konnte nur die Stimme hören, da ich mal wieder in der hinteren Ecke saß und die Tür sich weiter vorne in der Wand hinter mir befand. Aber das genügte schon, um meine Sicht auf ihn etwas aufzuhellen. Auch wenn er etwas überheblich klang, lag doch etwas sehr Freundliches in den Worten. Etwas Warmes, Beschützendes und Einhüllendes.

Den Blicken meiner Freunde nach zu urteilen, teilten sie diese Ansicht nicht.

„Ja, da sind Sie richtig. Was wollen Sie?", ging die Konversation vorne weiter. Herr Müller wirkte ungeduldig, tippte leicht mit dem Fuß auf den Boden.

„Ich bin Arokin", kam von der Tür, als würde jeder ihn kennen und schon seit Ewigkeiten wissen, dass er heute käme. Leises Gemurmel ertönte.

„Und? Solange Sie nicht die Reinkarnation von Michael Jackson sind, werden Sie bei mir keine Sonderrechte bekommen! Stellen Sie sich ganz kurz, vor und setzen Sie sich dann auf einen freien Platz." Er hatte aufgehört zu schreiben und sah den Neuen nun abwartend an.

Bei den Worten hob Sophie den Kopf. Im Gegensatz zu mir konnte sie von ihrem Platz aus die Tür sehen. Bis eben war sie damit beschäftigt gewesen, irgendetwas auf ihren Block zu kritzeln. Ihre Devise war: Schönheit gibt einem das Recht, sich so benehmen zu können, wie sie wollte, und trotzdem beliebt zu sein. Und immer das zu bekommen, was sie wollte.