-3- Von einem Brief und einer Höhle

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Dann kamen wir wieder zu Hause an. Meine Eltern saßen noch im Wohnzimmer und schauten Fernsehen. Von links drangen ihre Stimmen und das Murmeln des Fernsehers leise durch das Untergeschoss.

Ich schlich mich vorbei, um nach hinten zu der Treppe zu gehen. Die erste Stufe knarzte. Weder ich noch meine Eltern sagten ein Wort, obwohl jeder wusste, dass der andere da war. Mikey tappte in die Küche zu seinem Futter. Danach würde er wahrscheinlich ins Wohnzimmer gehen. Ich erklomm die Stufen weiter.

Ich ging den schmalen Flur entlang, am Schlafzimmer meiner Eltern vorbei. Bob war auch noch wach. Unter seiner Zimmertür schien Licht durch. Vermutlich wieder am PC, dachte ich.

In meinem Zimmer angekommen, zog ich mir die Schuhe aus, schaltete das Licht an, nahm ein Buch aus dem Regal, das gegenüber meines Bettes neben der Balkontür stand. Ich wollte die Hand ausstrecken, um die Balkontür zu öffnen, als ich erstarrte.

Sie war schon offen. Seltsam, vorhin war sie auf jeden Fall noch zu! Hatte sich mein 13-jähriger Bruder etwa wieder hier hereingeschlichen, und die Tür geöffnet, um mich zu ärgern? Aber das hatte er seit Jahren nicht mehr gemacht. Ich schüttelte den Gedanken ab und setzte mich an den Tisch  auf dem kleinen Balkon, der an mein Zimmer grenzte.

Das Buch hatte ich noch nicht gelesen, hatte es sogar fast vergessen. Es war Jahre her, als ich es sich gekauft hatte; damals, mit Olivia. Wir waren mit Lina in der Stadt gewesen, daran konnte ich mich noch sehr gut erinnern.

Ich schlug das Buch auf erschrak, als mir etwas entgegenfiel. Nach dem ich sah, was es war und was darauf stand, ließ ich das Buch ungeachtet auf den Tisch fallen.

Es war ein Umschlag. Und ich erkannte die Handschrift, in der ihr Name geschrieben worden war, augenblicklich.

Wann hätte Olivia den Umschlag dort hineinlegen sollen? Irgendwann, kurz nachdem ich dieses Buch gekauft hatte. Denn nicht lange danach hatten sich unsere Wege getrennt.

Mit zittrigen Fingern hob ich den Umschlag auf und öffnete ihn hektisch. Darin lag ein zusammengefalteter Brief.

Das Papier sah merkwürdig vergilbt aus. Ich spürte das zerbrechliche Papier zwischen meinen Fingern.

Vorsichtig faltete ich ihn auseinander und begann zu lesen.

Meine liebe Sarah,
Ich würde gerne so was sagen wie: Wenn du das liest, bin ich im Urlaub, liege am Strand und lasse mich braun brennen.
Aber das wäre nicht die Wahrheit.
Die Wahrheit ist: Wenn du das liest, bin ich wahrscheinlich tot – mehr oder weniger.
Ich wollte dir nur sagen: Du hast absolut keine Schuld daran. Wirklich nicht. Und jetzt hör auf, dir deswegen deinen Kopf zu zerbrechen! Es tut mir leid, wenn ich in unserer letzten gemeinsamen Zeit schlecht drauf war, aber es war… schwierig.
Du hast es bis jetzt überstanden, und du wirst es weiter überstehen.
Der Punkt ist… Es musste sein. Um auf dich aufpassen zu können. Das habe ich vorher natürlich auch, aber jetzt… Vorher konnte ich das nicht richtig. Weil ich keinen Zutritt hatte.
Pass auf, bald wird es besser. Irgendwann kannst du über die Wolken sehen und alles in seiner wahren Schönheit erkennen.
Weißt du, das Leben ist wie eine Schneeflocke: Von außen betrachtet einfach, gleichmäßig und eintönig. Aber wenn man genauer hinsieht, sieht man die Windungen, die einzelnen Schneekristalle, die eine Flocke bilden. Jede davon ist einzigartig.
Und irgendwann ist alles weg. Einfach verschwunden. Von der Erde aufgesaugt. Geschmolzen. Oder auch: Verschmolzen, damit es etwas Neues ergibt, etwas, das besser ist als eine Schneeflocke. Größer. Viel größer als alles, was du dir vorstellen kannst.
Verzeih mir, dafür, wie ich gehandelt habe. Aber bald wirst du es verstehen, vertrau mir! So, wie du es immer getan hast. Wir sehen uns wieder!
Olivia

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt