-5- Von Zerfall und Auferstehung

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Endlich war ich allein Zuhause. Meine Eltern waren auf dem Weg zur Arbeit, Bob in der Schule.

Ich selbst sollte mich langsam auch lieber fertig machen, sonst würde ich Lina verpassen, die bald hier stehen wollte. Und heute konnte ich es mir nicht leisten, zu spät zu kommen.

Also stand ich auf, nicht ohne Widerwillen. Meine Gedanken waren das ganze Wochenende über rastlos gewesen, an lernen war nicht zu denken. Ich hatte es versucht, aber das, was in meinem Kopf schwirrte, ließ nichts anderes seinen Platz einnehmen.

Nur zweimal war ich in die Küche gegangen, um etwas zu Essen zu holen. Niemand hatte gefragt, wie es mir ginge. Ich hoffte, dass meine Eltern in dieser Zeit mit Mikey spazieren gegangen waren. Der Hund hatte ein paarmal bei mir vorbeigesehen. Immer nachdem ich in der Küche gewesen war, war er mir in mein Zimmer gefolgt. Nach kurzer Zeit war selbst er wieder gegangen.

Ich machte mir keine Sorgen über die Abiturprüfungen, die würde ich schon auf die eine oder andere Art schaffen. Das war das Einzige, was ich an diesem Wochenende an Erkenntnis erlangt hatte. Die anderen Gedanken häuften sich munter weiter an. Oder sie fielen in eine Gletscherspalte, um dann irgendwann wieder hervorzukommen.

Wie sollte ich mich auch bei all dem auf Schule konzentrieren können?

Ich nahm mein Smartphone vom Nachttisch. Während der letzten beiden Tage waren einige Nachrichten angekommen. Die meisten waren von Henry, Ben und Lina. Ihnen hatte ich irgendwann Freitagnacht noch geschrieben, dass ich Zeit für mich benötige. Was vollkommen der Wahrheit entsprach. Meine beste Freundin hatte daraufhin ein paarmal versucht, anzurufen. Davon hatte ich aber nichts mitbekommen. Und wenn, wäre ich nicht ans Telefon gegangen. Die letzte Nachricht von Lina war eine Frage gewesen: Ich verstehe, wenn du jetzt Zeit für dich brauchst. Aber sag, wenn du Hilfe brauchst, ok?

Nachdem ich meine Sachen aufgesammelt hatte, ging ich duschen. Das Wasser war kalt, verursachte eine Gänsehaut. Ich hatte also doch noch eine Verbindung zur Realität.

Danach fasste ich einen Entschluss und schrieb Lina eine Nachricht:

Hey, ich brauche jetzt erstmal ein bisschen frische Luft. Aber mir geht es ganz gut. Ich werde laufen, die Zeit reicht noch. Ich komme dann zwar nach euch, aber ich bin pünktlich. Bis gleich!
Ach ja, hast du etwas von Sophie gehört?

Vielleicht würde mir das Laufen dabei helfen, den Kopf freizubekommen. Wenn ich jetzt loslief, schaffte ich es gerade noch rechtzeitig. Ich zog mir meine Schuhe an, die ich ebenfalls in meinem Zimmer hatte liegen lassen.

Ich wollte schnell das Fenster schließen, das die ganze Zeit gekippt war, um frische Luft ins Zimmer zu lassen. Da bemerkte ich eine Bewegung durch die Vorhänge. Schon wieder diese Vögel. Außerdem war noch eine Gestalt auf dem Balkon. Mir entfuhr ein genervtes Seufzen.

Ich öffnete die Balkontür und steckte den Kopf nach draußen. Die frische Luft war ungewöhnlich klar, fast so wie im Winter.

„Was machst du schon wieder hier? Und wie bist du auf den Balkon gekommen?"

„Ich muss dir etwas zeigen. Etwas Wichtiges." Er war die Ruhe selbst. Die Frage überging er. Mal wieder.

„Du weißt schon, dass ich immer noch die Polizei rufen kann. Nur weil wir uns einmal unterhalten haben und du offensichtlich etwas über meine Schwester weißt, heißt das nicht, dass du dich hier aufhalten und kommen und gehen darfst, wann du willst!"

„Ich habe Arokin gefunden...und Sophie. Vielleicht ist es also noch nicht zu spät", sagte er.

„Das ist...gut? Ich bin dafür, dass du jetzt gehst!" Ich war verwirrt. War er etwa nur hergekommen, um mir das zu sagen? Dennoch fühlte ich mich erleichtert. Wenn er sie gefunden hatte, hieß das, dass es ihr gutging, oder? Und auch, dass Arokin und er nichts mit dem Verschwinden zu tun hatten.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt