Der riesige Kopf wandte sich um, in meine Richtung. Ich wagte kaum Luft zu holen und stand noch immer wie erstarrt da. Miron legte den Kopf schief, ließ noch eine Rauchwolke aus seinem Maul aufsteigen, die sich bald wirbelnd mit dem restlichen Nebel am Boden vermischte, und sah mich an. Mit seinen riesigen leuchtenden Augen schien er mich in eine andere Welt zu katapultieren. Allein sein Auge war im Durchmesser größer als ich. Fast wirkte die Pupille wie eine Höhle, in die ich hineinspazieren konnte. Wie das Tor in eine andere Welt. Und trotzdem, oder gerade deshalb, gelang es mir nicht den Blick abzuwenden.
Du bist hier. Das ändert einiges. Vielleicht muss die Welt doch nicht untergehen. Ich brach vor Schmerzen fast zusammen und wollte schreien. Ich konnte nicht sagen, ob ich einen Ton herausbrachte. Ein tonnenschweres Gewicht drückte mich in den Boden. Wie lange hielten meine Knochen dieser Belastung stand, ehe sie wie nutzlose Streichhölzer einknicken würden? Ich wollte es nicht herausfinden und doch fühlte es sich an, als wäre alles an mir kurz davor zu zerbersten.
Aber es ändert nichts daran, dass ihr Verräter seid! Sein Blick glitt weiter, das Gewicht verschwand genauso plötzlich wie es gekommen war und ich konnte wieder atmen. Hastig nahm ich einige tiefe Atemzüge und hieß den Sauerstoff, der meine Lungen durchflutete, herzlich willkommen. Ihr dürft euch euer Grab schaufeln.
Er wandte sich ab und ich erkannte, dass es ihm egal war. Er verschwand. Aber vielleicht kannst du sie aufhalten. Vielleicht bist du doch nicht so klein.
„Und wie?" Ich fand nach der Luft auch meine Stimme wieder. Er gab mir keine Antwort. Die Worte verhalten im Nichts. „Du hast meine Schwester getötet!", rief ich ihm mit überschlagender Stimme hinterher. In die leere Luft, die er hinterließ.
Nein, ich habe sie nicht umgebracht. Sie lebt. Ich sehe einen Schatten über dir, den von Animera. Dieser Schatten ist der Grund, weshalb dein Blut ein Schlüssel zur Macht sein kann, so, wie Arokin ihn benutzen will. Stelle mit dem Wissen an, was du möchtest. Was ist richtig und was falsch?
Über mir herrschte noch immer Aufruhr, es war ein Spiegel meiner Inneren Empfindungen. Der Rabe, der mein Blut hatte, hatte den Ast, auf dem Arokin saß, erreicht. Asir sah ich in dem Trubel nicht mehr. Meine Gedanken rasten so schnell, dass ich keinen richtig erfassen konnte. Was meinte Miron damit? Wie sollte ich das aufhalten? Noch immer fielen Federn vom Himmel und glitten langsam zu Boden wie schwarze Schneeflocken. Wind war aufgekommen, der sie davontrug, teilweise wieder in den Himmel aufsteigen ließ. Er zerrte an dem Federkleid der Vögel, die abgestürzt waren. Einige lebten noch, sahen sich an, als wären sie aus einem Traum erwacht. Andere rührten sich nicht mehr. Der Drache war verschwunden. Und mit ihm löste sich auch der Nebel langsam auf.
Da begriff ich, dass die Macht sie alle geblendet hatte. Und sie waren von der Angst angetrieben worden. Die Aussicht auf Macht hatte sie sich gegen ihre Freunde stellen lassen, hatte Hass geschürt. Der Glaube an jemanden, der sie retten könnte. Und nun, am Ende, begriffen sie, dass nichts davon geschehen würde. Ein schmerzhaftes Erwachen für einige von ihnen. Ein hartes Aufprallen auf dem Boden der Tatsachen.
Die Erde erbebte unter einem Brüllen, das schmerzerfüllt klang. Gleichzeitig aber hoffnungsvoll. Jemand, der ewig gelebt hatte, empfing den Tod mit Unbehagen. Aber auch mit Freude. Für ihn war die Sache erledigt. Der Kampf am Himmel tobte weiter.
Ich sah zu Lihambra und erstarrte. Es war, als würde ich es in Zeitlupe sehen. Arokin hatte die Schuppe im Schnabel. Ein anderer Rabe hielt ihm den Zweig hin, den er mit der Schuppe berührte.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Asir versuchte, sich auf ihn zu stürzen. Ich erkannte ihn in dem Tumult noch immer nicht sicher, aber ich spürte, dass er es war. Aber der Rabe, der ihm den Stab mit meinem Blut gebracht hatte, ließ sich im Sturzflug auf ihn fallen und zusammen gingen sie, unter einem Gewirr aus Flügeln und Krächzen, zu Boden. Der Zweig fiel ins Gras.
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Lihambra - Geheimnis der Raben
FantasiaSarah hat es in ihrem Leben nicht leicht. Nach dem Tod ihrer Schwester wird sie immer wieder von der Trauer eingeholt. Aber all das rückt in den Hintergrund, als wenige Tage vor ihrem Schulabschluss ein neuer Schüler in die Klasse kommt. Zeitgleich...