Schließlich drehte ich wieder um und ging zurück nach Drosk. Ich schien keine Wahl zu haben und ich fühlte mich Olivia gegenüber dazu verpflichtet. Meine Beine schienen den Weg zu kennen, denn ich lief, ohne groß darüber nachzudenken. Stattdessen fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich hatte ganz vergessen, meine Schwester nach dem Brief zu fragen. Oder nach ihrer Todesursache, die, wenn ich Asir glauben sollte, eine andere war, als ich die ganze Zeit angenommen hatte. Da hatte ich einmal die Chance auf Antworten und hatte sie nicht genutzt!
Asir stand tatsächlich noch immer neben der Hütte. „Worüber denkst du nach?"
„Über nichts ... über alles ... es ist so viel passiert..." Ich fand nicht die richtigen Worte. Das alles, was mir in meinem Kopf herumschwirrte, ließ sich nicht in Worte fassen. Ich beschloss, die Begegnung mit Olivia erstmal für mich zu behalten. Er nickte nur.
„Weißt du, was mir beim Nachdenken hilft?", er machte eine Pause, sah mich an. „Ruhe. Ich ziehe dann oft meiner Wege und schaue, wo mich diese Wege hinführen. Oft komme ich dabei an neuen, wunderschönen Orten heraus."
„Ja, ich weiß, was du meinst ... Aber ich glaube kaum, dass es jetzt helfen würde. Es ist zu viel. Und ich habe keine Ahnung, wie dieser Weg aussieht!" Ich zuckte mit den Schultern.
„Dann leg dich hin und schlafe darüber. Morgen sieht die Welt für dich schon wieder anders aus. Und du anders für die Welt. Übrigens", fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, „ich lasse dir und Sophie neue Kleidung bringen. Eine, die nicht so auffällig ist."
Langsam hörten die Gedanken damit auf, sich im Kreis zu drehen. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus.
„Das wäre ja keine schlechte Idee, das mit dem Schlafen gehen. Aber ich weiß nicht, wo die Hütte ist, und hier ist es...", jetzt erst bemerkte ich die Fackeln, welche die kleinen und großen Wege des Dorfes säumten. „...so dunkel". Dieser Teil kam nur als Flüstern aus mir heraus.
Ich war mir sicher, dass der Weg vor meinem Aufbruch nicht beleuchtet gewesen war, auch nicht der schmale Pfad, der zu Birinjirs Hütte führte.
„Oft sehen wir nur das, was wir sehen wollen. Oder das, was wir zu diesem Zeitpunkt sehen dürfen. Gute Nacht." Mit diesen Worten deutete er eine Verbeugung an und ging davon.
„Stopp", rief ich ihm nach. Er blieb stehen und ich rannte ihm hinterher.
„Du bist mir noch eine Antwort schuldig. Was hat es mit den Raben auf sich, die ich die letzte Zeit über immer gesehen habe? Und mit diesen Stimmen in meinem Kopf?"
„Nun", er schaute zu mir herab und setzte seinen Weg fort. „Ich habe dir und Sophie doch erzählt, dass Arokin und ich mit der Hilfe unserer Freunde nach Sophie und dir gesucht haben. Nun, das sind unsere Freunde. Und was die Stimmen in deinem Kopf angeht..." Er blieb stehen und ich folgte seinem Beispiel.
Das weißt du doch schon, hallte es in meinem Kopf. Ich erkannte die Stimme. Vor einer Ewigkeit hatte sie mich verfolgt. Asir schaute mich an, als ich nur ein Nicken zustande brachte. Langsam ging ich weiter. Meine geistigen Kapazitäten waren für den Moment zu ausgeschöpft, um sich mit der Absurdität dieser Tatsache zu beschäftigen.
„Du warst es also doch", schlussfolgerte ich nach einer Weile. „Wieso hast du nichts gesagt?"
Das entlockte ihm ein Schmunzeln. „Hättest du mir etwa geglaubt? Einem Fremden, der einfach bei dir auftaucht?" Er sah mich fragend an.
Ich blickte zu Boden. „Wahrscheinlich nicht. Jetzt glaube ich dir. Denke ich. Ich weiß ja selbst nicht mehr, was wahr ist und was nicht." Dabei war er immer noch ein Fremder.
Wieder grinste er und ging weiter. „Soll ich Sophie sagen, dass sie sich später mit dir unterhalten soll? Über all das? Das ist immerhin etwas, das ihr teilt."
Ich starrte auf den Weg vor uns.
„Aber wenn sie sich nicht mit dir unterhalten möchte, mein Bruder und ich sind immer in Reichweite, falls du oder Sophie eine Frage haben. Oder einfach reden möchtet."
„Danke. Das weiß ich zu schätzen." Erst jetzt bemerkte ich, dass wir Birinjirs Hütte fast erreicht hatten. „Was ist dieses Besondere in unserem Blut? Warum habt ihr uns nicht von Anfang an gesagt, was wir hier tun sollen und warum müssten wir so lange vor der Hütte warten?"
„Durijan wollte sich erst in Ruhe mit uns unterhalten, da hättet ihr nur gestört. Ich meine das nicht abfällig, aber ihr habt so schön für genug Gesprächsstoff im Dorf gesorgt. Wir hatten die Hoffnung, dass wir so nicht so oft gestört werden. Das hat so mittelmäßig gut funktioniert. Bevor du etwas sagst, das war Durijans Idee. Genauso, dass ihr alles erst hier erfahren solltet. Es war ihm wichtig, dabeizusein. Und er konnte es am besten erzählen, da er von Anfang an dabei war. Mit anderen Antworten sollte man auf den richtigen Zeitpunkt warten." Ich funkelte ihn an und er schien nachzugeben. „Na gut. Scheinbar fließt altes Blut in euren Adern, das eine Verbindung zu dieser Welt hier hat. Und Blut aus zwei Welten kann uns wirklich dabei helfen, neue Machtträger, neue Götter, zu finden."
„Was meinst du? Wie?" Am liebsten hätte ich gegen etwas getreten. Aber da war nichts.
„Na dann. Gute Nacht. Diesmal wirklich. Ich muss nämlich gehen", wieder verbeugte er sich.
„Gute Nacht", und wieder sah ich in diese grünen Augen. Die Wut war verschwunden, ebenso wie die Fragen, die sich in mir immer weiter anstauten wie Wasser in einem Stausee. Er wandte sich um und ging.
Als ich die letzten Schritte in Richtung Hütte tat, blickte ich zurück. Obwohl der Pfad immer noch beleuchtet war, fehlte von Asir jede Spur. Stattdessen hörte ich, wie in nicht allzu weiter Ferne Raben krächzten. Ich schüttelte den Kopf.
Nachdem ich die Tür der kleinen Hütte geöffnet hatte, schaute ich auf die Feuerstelle. Natürlich brannte kein Feuer darin.
Dann muss ich wohl frieren, dachte ich, aber immerhin verströmen die Kräutersäckchen einen guten Duft. Die Tür ließ ich offen. So schien immerhin etwas Licht in das Innere.
Es kam mir falsch vor, mich in das Bett zu legen. Schließlich war es nicht meines.
So sammelte ich alle Felle in der Hütte ein, die ich finden konnte. Bei dieser Aktion stolperte ich über einen Berg aus Töpfen und Kesseln, was ein lautes Scheppern verursachte und mich fluchen ließ. Es war schon wieder so dunkel. Der Wind hatte die Tür zugeschlagen. Ich beschloss, die Tür nicht wieder zu öffnen. Denn durch den Wind, der durch die Tür geweht war, wurde es nur noch kälter.
Die gesammelten Felle türmte ich neben der Feuerstelle auf. Auch wenn dort kein Feuer brannte, wollte ich davor schlafen. Nicht in irgendeiner Ecke, wo die Kälte durch die dünne Wand kriechen konnte.
Nachdem ich mich auf ein paar Felle gelegt und unter ein paar verkrochen hatte, fiel mir etwas auf. Asir hatte, wenn er von Sophie und mir gesprochen hatte, nie ihr oder euch gesagt. Sondern immer nur von Sophie und mir gesprochen. Es war zwar nur eine Kleinigkeit, aber für diese Kleinigkeit war ich ihm sehr dankbar. Mit diesen Gedanken schlief ich ein. Schneller, als ich es erwartet hätte.
In der Nacht wachte ich mehrmals auf. Es hatte verschiedene Gründe gegeben: Albträume von Krähen, die mich angriffen und von einem Beben, das die ganze Welt erzittern ließ. Die Kälte, die in mein Inneres kroch. Angst vor dem, was mich hier erwarten würde. Gedanken, die mich aufweckten und grübeln ließen.
Was hatte das alles mit meiner Schwester zu tun? Wie war sie hierhergekommen? Warum hatte sie sich nicht früher bei mir gemeldet? Wieso war ich hier? Warum war Sophie hier? Wie sollten wir das alles aufhalten? Ich wollte einfach nur wissen, was mit Olivia passiert war. Asir hatte gesagt, es würde Antworten geben. Bisher konnte ich keine wirklichen Antworten erkennen. Stattdessen kamen mir immer mehr Fragen in den Sinn. Nachdem ich mich lange unruhig hin und her gewälzt hatte, schlief ich doch wieder ein.
Und das nächste Mal war ich vor Wärme aufgewacht. Das Feuer neben mir brannte, die Welt um mich herum war vollkommen still, selbst das Feuer brannte ruhig vor sich hin, tauchte alles in ein angenehmes Licht. Jemand war hier gewesen, hatte die Kälte und die Angst mitgenommen und Wärme sowie Geborgenheit hinterlassen. Ruhigen Gewissens und mit gewärmten Rücken schlief ich wieder ein.
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Lihambra - Geheimnis der Raben
FantasíaSarah hat es in ihrem Leben nicht leicht. Nach dem Tod ihrer Schwester wird sie immer wieder von der Trauer eingeholt. Aber all das rückt in den Hintergrund, als wenige Tage vor ihrem Schulabschluss ein neuer Schüler in die Klasse kommt. Zeitgleich...