„Warum hast du das nicht gleich gesagt?" Was genau war das? Wollte ich das überhaupt wissen? Ja. Ja, es war Zeit, wie er gesagt hatte. Ich hatte nach Antworten gelechzt, und jetzt, wo er mir noch mehr erzählen wollte, überlegte ich, einen Rückzieher zu machen? Auf keinen Fall!
Er ging zunächst nicht auf meine Frage ein, setzte sich ins Gras und lehnte sich gegen den Baumstamm. „Ich wollte dir nicht zu viel zumuten. Du hattest genug, mit dem du zurecht kommen musstest. Hast du immer noch, aber vielleicht hilft es dir, wenn du etwas abhaken kannst. Jetzt, wo wir hier sind." Ich setzte mich neben ihn, und jetzt gab mir der Baum Halt, als er anfing zu erzählen.
„Auch wenn du Birinjir nicht kennengelernt hast, spielt er in der Geschichte eine wichtige Rolle. Er war der vorübergehende Ersatz, sollte meinen Eltern etwas passieren und ich noch nicht alt genug sein. Eine Art Rettungsring, mit dem man sich eine gewisse Zeit über Wasser halten kann, und doch ist es kein Schiff. Mit Pilkos einer der Ältesten. Eines Tages, zu dieser Zeit war alles ruhig, die Macht war unter Kontrolle, machte er sich auf den Weg, um Nuria zu erkunden. Nuria und Lihambra liegen nebeneinander, der Weg ist nicht weit und das war der Grund, warum ihm diese Erkundung allein noch keine Probleme bereitete. Das Ende dieser Reise war absehbar. In Nuria flog er in jeden Winkel, bis es nichts mehr gab, was er nicht kannte. Und so kam der Tag, an dem er zu Pilkos flog, um ihm etwas mitzuteilen."
Ich hätte seiner Stimme für immer lauschen können, so angenehm klang sie. Die Worte hüllten mich wie eine warme Decke an einem kalten Tag. Es war gemütlich. Wieder beschwor die Erzählung sehr lebendige Bilder in meinem Geist herauf.
~•~
Diesmal sah ich das Geschehen aus niemandes Augen. Stattdessen war es so, als würde ich innere Bilder zu dem erschaffen, was mir erzählt wurde. Als könnte ich unentdeckt an dieser Szene teilhaben, die sich mir bot.
Es sah fast alles so aus wie jetzt, mit der Ausnahme, dass Lihambra an sich viel lebendiger wirkte. Die Rinde schien stark zu sein, war glatt und machte keine Anstalten abzublättern. Auch in der Baumkrone fanden sich Blätter, die saftig grün waren. Eine pulsierende, warme Energie ging von ihnen aus. Immer wieder stahlen sich einzelne braune Blätter dazwischen. Die Energie, die von diesen Blättern kam, war kaum mehr als ein schwaches Flackern. Der Verfall hatte damals schon begonnen, wenn auch nicht ansatzweise so stark wie in meiner heutigen Zeit.
Pilkos, der sich mit seinem grauen Gefieder deutlich von den anderen abhob, saß auf dem Baum neben einem anderen, schwarzen Raben. „Ich werde fortgehen. Ich will wissen, wie die anderen Welten sind. Es gibt noch so viele. Warum sollte ich hierbleiben? Wo es doch so viele von uns gibt, die umherfliegen. Warum wir nicht auch? Nuria kann nicht die einzige Welt bleiben, die ich gesehen habe!" Das war er also. Birinjir, von dem ich schon so viel gehört hatte. Der gewissermaßen dafür verantwortlich war, dass ich nun auch in Lihambra war. Dass Sophie all das erlebt hatte ...
Ein abfälliger Laut riss mich aus meinen Gedanken.
„Wie stellst du dir das vor? Willst du einfach so verschwinden und deine Pflichten vernachlässigen? Mir das hier alles alleine überlassen?" Ich spürte seine Wut. Pilkos fühlte sich verraten. Er wollte nicht riskieren was geschah, sollte einer von ihnen verschwinden. Zwar waren sie nicht die obersten Hüter, diese Rolle fiel Aelir und Belana zu, dennoch hatten sie beide eine besondere Aufgabe.
Sie waren immerhin die Wächter, die am meisten Erfahrung hatten. Nicht etwa, weil sie selbst früher durch die Welten flogen, sondern durch das, was ihnen von ihren Vorfahren erzählt wurde. Daraus schöpften sie ihr Wissen. Und zum Teil aus Xylath, dem Stein, der so viel wusste. Obwohl auch dieser Stein ihnen längst nicht alles zeigte. Doch wenn jemand eine Frage hatte oder etwas suchte, wandten sich die anderen an sie. Und sie wiederum konnten Xylath fragen, wenn sie nicht weiterwussten. Zudem führten sie neue Wächter in ihre Aufgabe ein. Erklärten ihnen, wie es ihnen möglich war, die Welten zu wechseln und wie sie die Welt fanden, zu der sie die tiefste Verbindung hatten, damit sie diese eine Welt mit dem Zentrum und somit mit allen anderen Welten verbinden konnten. Damit sie das Gefüge mit ihren Flügen zusammenhielten. Es war wie ein unsichtbares Seil, an dem sich die verschiedenen Welten auffädelten. Würde das Seil an einer Stelle durchtrennt, würde das diese eine Welt aus ihrer Bahn bringen. Und was dann passierte, wusste niemand. Wollte niemand wissen. Eine weit verbreitete Theorie war die, dass diese eine Welt ins Nichts abdriftet. Das hieße wohl auch, dass die Zeit einfach stehenbliebe.
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Lihambra - Geheimnis der Raben
FantasySarah hat es in ihrem Leben nicht leicht. Nach dem Tod ihrer Schwester wird sie immer wieder von der Trauer eingeholt. Aber all das rückt in den Hintergrund, als wenige Tage vor ihrem Schulabschluss ein neuer Schüler in die Klasse kommt. Zeitgleich...