-18- Von Bäumen und Dämmen I

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Ein paar Augenblicke später sah ich einen Fluss, der sprudelnd durch die Landschaft floss. In einiger Entfernung  erhob sich ein mächtiger Baum aus dem Boden. Der Stamm war dick, an manchen Stellen blätterte die Rinde ab. Doch weder das, noch die blätterlosen Äste, die sich dunkel vom Sternenhimmel abzeichneten, konnten der beeindruckenden Erscheinung etwas anhaben. Ein Kribbeln breitete sich von meinem Rücken über meine Arme und Beine aus, als sich jedes einzelne meiner Härchen aufstellte. Tränen der Ehrfurcht traten mir in die Augen.

Es hatte etwas Mystisches. Durch den leichten Wind, der mir um mein Gesicht fuhr, fühlte es sich so an, als würde dieser Ort Kontakt zu mir aufnehmen. Ich atmete tief ein, schloss die Augen und fühlte mich lebendig. So lebendig wie lange nicht mehr. Die Luft füllte meine Lungen warm aus.

Die zweite Weltenreise war anders als die erste. Ich empfand weder Verwirrung noch sah ich schlechter, wie es bei meiner Ankunft in Drosk der Fall gewesen war. Stattdessen spürte ich nichts als inneren Frieden, der jede Zelle meines Körpers ausfüllte.

Kurz stand ich einfach da, lauschte dem leisen Rauschen des Wassers, das irgendwo hinter mir in einem Wasserfall hinabzustürzen schien, bevor ich die Augen wieder öffnete. „Das ist also das Zentrum der Macht. Lihambra." Den Namen hier auszusprechen, wo ich diesen Ort direkt vor Augen hatte und endlich wusste, wie er aussah, war etwas Besonders. Lihambra war für mich nicht länger nur eine ungewisse Vorstellung, sondern Realität. Nur noch wenige Meter trennten mich von dem Baum.

Asir zog mich leicht hinter sich her. „Ich nenne es den Mittelpunkt aller Existenz. Einen Kraftort. Ein Zuhause." In seiner Stimme klang unüberhörbarer Stolz mit, als er von seiner Heimat berichtete. Wie gerne ich auch so einen Ort hätte. Ich hatte ein Zuhause, ja, aber keine Heimat, keinen Kraftort. Das wurde mir erst jetzt richtig bewusst. Es versetzte mir einen Stich, der aber bald wieder verflog. Dieser Ort hatte etwas Beruhigendes. Vielleicht hatte er sogar das Potential dazu, eine Heimat für mich zu werden? Ein absurder Gedanke, war es doch lediglich die Macht dieses Ortes, die mich zu sich lockte, wie mir kurz darauf klar wurde.

Wir liefen weiter auf den Baum zu. Jetzt erkannte ich, dass hier überall Raben und kleinere Krähen herumflogen. Als der Baum direkt vor uns in die Höhe ragte, blieb Asir stehen, ließ meine Hand los und streckte seine dem Stamm entgegen. Er war gewaltig, der größte Baum, den ich je gesehen hatte. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht auf die Knie zu fallen, so sehr erfüllte mich dieser Baum mit Ehrfurcht. Ich wagte es nicht, ihn zu berühren, aber ich betrachtete jedes einzelne Detail der Musterung in der Rinde.

„Der einzige Ort, an dem die Götter nicht die Mächtigsten waren. Lihambra ist die Quelle, die das Grundwasser speist. Und wenn immer nur neues Wasser in diesen Speicher einfließt, gibt es eine Überschwemmung. Wir stehen sehr kurz vor dieser Überschwemmung, wie du weißt. Die Götter haben regelmäßig von der Macht geschöpft, aber jetzt ... war das Einzige, von dem mein Bruder und ich geschöpft haben dieses Auffangbecken. Ein kleines Auffangbecken, das ein wenig von dem überlaufenden Wasser abhält. Aber längst nicht alles. Nicht annähernd genug." Insgeheim war ich froh, dass er dieses Bild mit dem Wasser benutzte, so war es einfacher für mich, das Ganze zu verstehen. In meinem Kopf schwirrte schon so vieles, von dem ich bis vor Kurzem nicht Mal zu träumen gewagt hätte.

Ich sah den Stamm hinauf. Hier sammelte sich also alle Macht der Welten. So dicht vor uns. So dicht vor mir.„Warum gibt es dann überhaupt Götter?"

„Jemand muss die Macht benutzen. Ansonsten würde sie sich selbst zerstören. Und manche Wesen, so wie die Drachen, sind mächtig genug, um die Macht in sich zu halten. Sie leben trotzdem noch ein langes Leben. Jemanden wie uns", ich hörte das kurze Stocken in seiner Stimme - jemanden wie seinen Bruder, „würde es sofort umbringen, wenn wir die ganze Macht in uns aufnehmen. Aber jemand muss es tun. Sonst vergiftet sich die Macht selbst und mit ihr alles, was es gibt. Dennoch haben selbst die Götter die Macht unter sich aufgeteilt. Das, was Arokin vorhat, ist purer Wahnsinn. Und er erkennt es nicht." Er krallte seine Hand in den Stamm.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt