-20- Von Vergangenheit und Zukunft II

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„Was ist dann passiert? Hier, meine ich, nach deiner Rückkehr." Meine Zunge war schwer und ich sah dem Wasser vor mir dabei zu, wie es in diese unbekannte Tiefe stürzte.

„Ich schaffte es zurück und habe allen erzählen müssen, was passiert war. Alle waren erschüttert. Pilkos war wütend, er gab Birinjir die Schuld an ihrem Tod. Eine Zeit lang hat ein Teil von mir das auch geglaubt. Aber jetzt denke ich, dass es nicht so einfach ist. So einfach ist es nie." Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch und klang rau. Der Schall ging fast vollständig im Tosen des Wassers unter. „Erst hier wurde mir wirklich bewusst, welche Tragweite dieses Ereignis hatte. Pilkos musste jetzt eine Aufgabe übernehmen, für die er nie vorgesehen war. Ich würde schneller lernen müssen, meinen Platz einzunehmen, als ich je gedacht habe. Und ... wir verloren unsere Familie. Doch wir schafften es, irgendwie. Pilkos hielt die Stellung und ich lernte, was ich lernen musste. Und Arokin und ich halfen uns gegenseitig durch unsere Trauer. Und dann, kurz bevor ich meinen Platz einnehmen sollte, erzählte mir Birinjir von der Prophezeiung und alles änderte sich wieder, weil mein Bruder und ich uns auf die Suche machten. Das war wichtiger als alles andere, denn auch unserem Zuhause fing es an, schlechter zu gehen. Wir konnten sehen, dass Lihambra langsam starb."

Ich konnte nachvollziehen, wie er sich fühlen musste. Auch ich hatte jemanden verloren, der mir am Herzen lag. Wir beide hatten diesen dunklen Fleck auf unserer Seele. Er war für immer eingebrannt. Immerhin hatte er jemanden gehabt, mit dem er all das teilen konnte.

„Danke für dein Vertrauen. Dass du es mir erzählt hast. Nichts davon ist deine Schuld." Etwas anderes fiel mir nicht ein. Gab es überhaupt richtige Worte, nach dieser ganzen Erzählung? Einer Eingebung folgend, setzte ich mich näher zu ihm. Zögerlich legte ich einen Arm um ihn. Er hatte mir Halt gegeben, jetzt war ich dran. Dennoch war ich mir nicht sicher, wie er es auffassen würde.

Er rührte sich immer noch nicht.

„Es tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest!"

„Ja. Wenn ich es jetzt nicht schaffe, Arokin von seinem Pfad abzubringen, habe ich versagt, mein Versprechen ist gebrochen. Wie soll ich in der Lage sein, auf die Macht aufzupassen, wenn ich das nichtmal bei meinem Bruder schaffe?" Er hielt einige Wimpernschläge inne. „Aber all das hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Und so hat jeder seine Geschichte. Die eine ist schöner, die andere schlechter." Nun wirkte er fast wieder wie er selbst. „Da Pilkos nicht für diese Aufgabe vorgesehen ist, konnte er mir nicht sonderlich viel helfen. Ich musste ganz alleine dort hineinwachsen. Ich bin jetzt an der Reihe. Dabei habe ich eigentlich keine Ahnung, wie man das macht. Oder was auf mich zukommt. Auch, wenn ich ein klein wenig von meinen Eltern mitbekommen habe..."

Ich war also nicht die Einzige, die nicht mit ihrem Schicksal klarkam. Wie sollte ich neue Götter finden, wenn ich noch nichtmal wusste, wer ich selbst war?
Ein anderes Zahnrad rückte an seinen Platz und ermöglichte mir, an etwas anderes zu denken. Wie hatte ich dann Olivia befreien können? Asir sagte, es bräuchte verwandte Seelen, um das zu schaffen. Vielleicht war ich doch nicht die, für die er mich hielt? Leise Zweifel krochen aus den Ecken meines Verstandes. Doch noch Ehe sie meine Gedanken verdunkeln könnten, kamen sie mir verwerflich vor. Meine Verbindung zu diesem Ort war zu stark, als dass es bloße Einbildung sein konnte. Es musste eine andere Erklärung geben. Aber welche?

„Das ist eine gute Frage, auf die ich auch keine Antwort habe. Die wahrscheinlichste Lösung ist wohl, dass ihr durch die lange Zeit, die ihr miteinander verbracht habt, eine so starke Verbindung zueinander aufgebaut habt."

Es war mir egal, dass er wusste, was ich dachte.

Schließlich riss er seinen Blick vom Fluss los und sah mich an. In den tiefen seiner Pupillen erkannte ich die Schwere der Last, die er die ganze Zeit mit sich getragen hatte. Die er eben mit mir geteilt hatte. Plötzlich wirkte er so viel jünger, so verletzlich.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt