Früher waren wir oft hier gewesen. In diesem Gebäude, in dem so viel Trubel herrschte, so eine Unruhe. Eine Hektik, aber auch Vorfreude und Glück. Viele Menschen rannten herum, manche mit Essen in den Händen, andere vollgepackt mit Tüten oder Taschen. Alle gingen sie ärmer von hier, als sie gekommen waren. Und doch reicher.
War das meine Absicht gewesen? Wäre es nicht eigentlich meine Pflicht, gute, ruhige Welten zu erschaffen, deren Bewohner glücklich waren? Lag es überhaupt in meiner Macht zu entscheiden, was Glück für jeden einzelnen bedeutete? War das eine Aufgabe der Drachen gewesen? Oder war jeder Mensch der Schmied seines eigenen Glückes? Fragen, deren Antworten ich noch nicht kannte.
Mein Blick glitt durch das Einkaufszentrum in der Stadt. Es war dasselbe, in dem ich mir mit Lina und Olivia das Buch gekauft hatte, in dem ich den Brief gefunden hatte. Liegt der Anfang von alledem am Ende hier?
Ich hörte eine vertraute Stimme durch das Grundgemurmel hindurch. „Kino klingt gut.“ Es war Lina, die ich aus tausenden wiedererkennen würde. Sie hatte mich so oft getröstet, aufgemuntert, zum Lachen gebracht wie niemand sonst. Sie war verstummt und hatte zugehört, wenn ich es brauchte.
Keine Sekunde benötigte ich, um sie zu entdecken. Sie liefen gerade aus einem Geschäft, sie, Henry und Ben. Und an ihrer Seite Sophie.
Es überraschte mich und gleichzeitig tat es das nicht. Sie hatte meinen Platz eingenommen. Meine Lücke gefüllt. Ganz einfach. Zugleich war mir klar, so einfach war es nicht.
Noch hatten sie mich nicht entdeckt, waren in ihre Unterhaltung darüber vertieft, welchen Film sie schauen sollten.
Urplötzlich fühlte ich mich genauso, wie ich hier stand: Allein in einer Masse von Fremden. Klein. Nicht wie eine Göttin, sondern wie jemand, der von seinen Freunden verlassen worden war.
Ich hielt die Luft an, als sie an mir vorbeiliefen, doch ich war für sie nur eine Person unter vielen. Offenbar hatten sie mich tatsächlich vergessen. Für sie ging ich in der Masse unter.
Meine Wut auf Arokin flammte erneut auf. Ich rang sie nieder. Doch egal, wie viel Wasser ich auf dieses Feuer schüttete, es schwelte weiter.
Jetzt war nicht die Zeit, es brennen zu lassen. Noch nicht.
„Wartet mal!", rief ich ihnen hinterher.
Ben warf einen schnellen Blick über seine Schulter, und kurz, ganz kurz, blitzte mir ein Erkennen aus seinen Augen entgegen. Doch genauso schnell, wie ein Regenbogen nach dem Regen verschwand, war nach einem Wimpernschlag nichts mehr davon übrig. Er blieb stehen. Ich lief auf ihn zu.
Auch die anderen hielten inne, wandten sich um und sahen mich an. Fragten sich, wer ich war und was ich von ihnen wollte. Ihre Gedanken prallten ungebremst in mich hinein. Ich verschloss mich vor ihnen. Ein wenig.
„Können wir dir helfen?" Ich erkannte an Bens Art zu sprechen die bittere Wahrheit. Er wusste tatsächlich nicht, wer ich war. Er, mit dem ich in einem anderen Leben vielleicht eine Beziehung eingegangen wäre. Oder eben nicht. Egal.
„Ich bin nicht von hier und suche das Kino." Es war eine schwache Ausrede, eine andere fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Ich musste den Grundstein für ein Gespräch legen, das lange genug anhielt, um mein Vorhaben Wirklichkeit werden zu lassen.
„Das ist nicht schwer zu finden“, begann Sophie freundlich. Ich hörte ihr nicht zu.
Sie war die Erste. Ich schlüpfte in ihre Gedanken, wie in einen neuen Schuh, suchte dort nach Spuren von mir, ohne selbst welche zu hinterlassen. Ein Ermittler an einem Tatort.
Ich fand es schnell. Alles, was wir erlebt hatten, war noch da, aber so gut versteckt, dass ich es nie gefunden hätte, hätte ich nicht gezielt danach Ausschau gehalten. So gut versteckt, dass sie niemals selbst darauf würde zugreifen können.
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Lihambra - Geheimnis der Raben
FantasíaSarah hat es in ihrem Leben nicht leicht. Nach dem Tod ihrer Schwester wird sie immer wieder von der Trauer eingeholt. Aber all das rückt in den Hintergrund, als wenige Tage vor ihrem Schulabschluss ein neuer Schüler in die Klasse kommt. Zeitgleich...