-32- Von Geschichten und Augen II

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Er war nicht viel größer als ich und hatte mittlerweile graue Haare, durch die stellenweise die schwarze Farbe seiner Jugend blitzte.

Oh ja, ich kannte ihn. Nicht nur wegen der Stimme, die ich lange nicht mehr gehört hatte. Schließlich hatte ich ihn mir ausgesucht. Das sagte der eine Teil von mir. Der andere, kleinere, konnte es nicht glauben.

Ich habe ihn gefunden. Meine Gedanken prallten gegen eine Wand und vergingen in meinem Kopf, ohne ihr Ziel zu erreichen. Ich wollte frustriert aufschreien. Wie konnte das sein? Ich war eine Göttin und gefangen in meinem eigenen Kopf! Geschah das, wenn jemand anderes mehr von meiner Macht besaß als ich?

Diesen Teil hatte ich nicht eingeplant, doch ich könnte ihn wieder mitnehmen, nach Lihambra. Wo er frei sein konnte. Hatte er das verdient? Nein, eigentlich nicht. Und doch hatte er Sarah viel bedeutet, irgendwie ...

Was war eine angemessene Reaktion auf dieses Treffen? In Tränen ausbrechen? Vor Freude oder aus Überforderung? Ihm um den Hals fallen? So tun, als würde ich ihn nicht kennen? Ihn anschreien und fragen, warum er mich allein gelassen hatte?

Für eine Tochter, die ihren Vater zum ersten Mal seit Jahren sah, wäre wohl alles davon gerechtfertigt gewesen.

Doch am Ende war auch er nur ein Mensch. Ein Mensch, der keine große Rolle im Theaterstück des Seins innehatte. Oder vielleicht doch. Vielleicht würde er eine gute Geisel abgeben, immerhin schien es, als wäre er Arokin wichtig. Oder vielleicht sollte ich ihn einfach gleich eine meiner Waffen in den Körper stoßen. Welche Rolle spielte das? Nein, das ginge zu weit. Er war nicht wichtig.

Ich durfte mich nicht von diesen Kleinigkeiten ablenken lassen, bis ich hatte, was ich wollte!

„Birinjir", sagte ich. Jetzt konnte ich ihn vollständig erkennen, als würde er bei Tageslicht in der Sonne stehen, obwohl wir uns in dieser dunklen Höhle befanden, lediglich das Feuer spendete ein wenig Licht, das seitlich auf ihn fiel. Er hatte ein rundliches Gesicht, über dem der Schatten eines Bartes lag. Und ich meinte, mich selbst in seinen Augen zu erkennen. Dennoch wäre Vater mittlerweile die falsche Ansprache gewesen. Nein, nicht mich selbst. Sarah! Höchstens meinen Körper erkannte ich darin wieder, aber nicht mich!

Er musterte mich mit seinen glänzenden dunklen Augen von oben bis unten. Dann lächelte er, vorsichtig. Seine Lippen zitterten dabei. „Sarah." Er sah mich ungläubig an und das Wort kämpfte sich durch seine Lippen, als wüsste er nicht, wie man den Namen richtig aussprach.

Mit einem Kopfschütteln zerstörte ich seine Euphorie. Sie flüchtete förmlich aus seinem Gesicht. „Nicht mehr. Nicht nur."

Er musterte mich erneut, kühler diesmal, und nickte dann. Mit Ehrfurcht in der Stimme fuhr er fort: „Das warst du schon fast dein ganzes Leben. Das ich verpasst habe. Wie auch immer. Du hast es hierhergeschafft. Das freut mich." Er winkte mich mit einer Hand zu sich. „Komm, ich, wir, haben dir etwas zu erzählen. Jetzt, da du endlich hier bist und uns zuhörst."

„Warum sollte ich dir zuhören? Dein großer Auftritt ist vorbei, liegt lange zurück. Wo ist er? Vergiss es! Ich habe erstmal eine Frage an dich! Warum hast du mich, warum hast du Sarah, weggegeben? Nur, damit du hierher zurückkehren kannst?" Ich spürte die Wut erneut in mir aufsteigen. Auch, wenn es im Grunde nicht mehr wichtig war, denn es handelte sich um eine menschliche Wut. Eine, die mir nur im Weg stand, so wie Birinjir.

„Ich habe auch länger gebraucht um zu erkennen, was richtig und falsch ist. Und dann war es zu spät. Ich gebe dir deine Antworten gleich. Aber bitte, komm von der Grenze weg und setz' dich ans Feuer. Dort ist es sicherer." Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er in die Mitte der Höhle und ließ sich vor den Flammen nieder. Neben ihm saßen viele Raben, zu viele, um sie zu zählen. Ich wusste, es waren hundertzweiundzwanzig. Zu viele, die das Auseinanderdriften des Gefüges nicht im Geringsten zu stören schien.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt