-23- Vom Erinnern und Vergessen

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Um mich herum war nichts außer heißem Licht. Ich wusste nicht, ob ich in der Luft schwebte, auf dem Boden stand oder gar in eine unbekannte Tiefe stürzte. Alles war gleich, niemand außer mir hier. Die vollkommene Stille, die hier herrschte, sorgte für ein schmerzvolles hohes Piepsen in meinen Ohren.

Ich sah etwas in dem Licht auftauchen. Es waren Bilder. Landschaften. Ein Rapsfeld, neben dem ein Mann und eine Frau spazierten.

Die Umgebung veränderte sich langsam wabernd. Olivia und ich, in einem Einkaufszentrum. In dem Einkaufszentrum, in dem ich mir das Buch gekauft hatte, in dem ich ihren Brief finden sollte.

Ich, als ich vor ihrer Tür stand und sie mir diese vor der Nase zuschlug.

Ich sah mich vor Olivias Grab, weinend.

Den Moment, in dem Arokin in der Klasse auftauchte. Lina, Ben, Henry und ich im Kletterwald, beim Essen. Den Streit mit meinen Eltern. Der Fremde auf meinem Balkon. Die Ankunft in Nuria.

Die Szenen verschwammen miteinander, flogen immer schneller an mir vorbei. Der Anfang unserer Reise, die Zeit, die wir auf dem Schiff verbrachten. Der Tümpel. Bis ich am Ende war und das Leuchten wieder alles um mich herum einnahm.

***

Das Licht veränderte sich, wurde dunkler. Schwarz. Auf einer Seite war es etwas heller als auf der anderen. In der Dunkelheit bildeten sich Muster. Sie waren mal heller, mal dunkler. Manche Flecken veränderten ihre Form, schienen zu wandern.

Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, was los war. Ich lag. Auf dem Boden. Nein, nicht auf dem Boden. Das hier war weicher als der Boden, eher wie ...

Ein gleichmäßiges, sich wiederholendes Geräusch drang an meine Ohren. Fast wie ein Herzschlag. Ein vertrautes Geräusch, das ich lange nicht mehr gehört hatte. So kam es mir jedenfalls vor.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich erblickte mir vertraute Vorhänge, durch die das Licht der morgendlichen Sonne fiel. Das Ticken der Uhr an meiner Wand durchzuckte die Stille. Ich fühlte mich, als wäre ich von einem Lastwagen überfahren und anschließend gegen eine Wand geschleudert worden. Erschöpft. Etwas war anders. Falsch.

Erst jetzt begriff ich es. Mein Herz beschleunigte seine Frequenz aus dem Nichts ins Unendliche und mein Atem stockte. Ich lag in meinem Bett, war mit meiner Decke zugedeckt. Nein, das konnte nicht sein! Unmöglich! Gleichzeitig fühlte sich meine Matratze so weich, so einladend an. Und die Decke auf mir vermittelte mir eine ganz eigene Geborgenheit, wie ich sie lange nicht mehr gespürt hatte. Eigentlich war es nicht schlecht hier.

Ein Motorrad fuhr vorbei. Das Geräusch des Motors verursachte mir mehr Kopfschmerzen als das Brüllen von Miron. Das Geräusch war unnatürlich. Ich drehte mich um und vergrub mein Gesicht in meinem Kissen, das sich so fremd anfühlte. Und so vertraut. Es dauerte nicht lange und Tränen bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche, versanken in dem Stoff unter mir. Denn auch wenn mein Zimmer mir eine Geborgenheit vorgaukelte, so war sie falsch. Das hier war nicht mehr mein Leben!

Oder?

Das alles konnte unmöglich ein Traum gewesen sein! Ich war zu lange in Nuria gewesen. Ich wusste, dass die Zeit in Träumen schneller verging, aber doch nicht so. Es war unmöglich, dass ich mir das alles ausgedacht hatte. So lebhaft war meine Fantasie nicht. War ich am Ende, so wie Sophie, dort gestorben und in meine Welt zurückgekommen? Nein, nicht meine Welt. Eine. Denn diese hier war nicht mehr meine. Nicht nach dem, was ich wusste.

Ich hörte Schritte auf der Treppe. Es war so falsch wie damals, als ich den Streit mit Olivia hatte. Aber im Gegensatz dazu hatte mir nun niemand die Tür vor der Nase zugeschlagen. Wenn ich wollte, wäre ich nichtmal in der Lage, die Tür einzutreten. Ich war noch nicht mal in der Lage, zu der Tür zu kommen. Es gab keine Möglichkeit, zurückzukehren. Wo ist mein Zuhause?

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt