-4- Von Raben und einem Fremden II

45 9 46
                                    

Ich rannte die Straße entlang, lief dann auf die andere Seite. Als ich ein lautes Hupen und quietschende Reifen hörte, blieb ich stehen. Wenige Zentimeter neben mir war ein Auto gerade noch rechtzeitig zum Stehen gekommen. Mein Herzschlag und meine Atmung beschleunigten sich spürbar. Meine Hände fingen an zu zittern. Ich hob die Hand, um mich zu entschuldigen. Dabei hatte ich das Gefühl, gegen einen Widerstand kämpfen zu müssen, so schwer war die Bewegung. Die Reaktion des Autofahrers nahm ich nicht mehr wahr. Denn ich lief bereits weiter, noch atemloser als zuvor.

„Stopp!", hörte ich die Stimme rufen. Es war eine tiefe Männerstimme. Während des Sprechens hatte sie einen leichten Widerhall. Die Stimme hatte ich noch nie gehört. Noch immer war niemand außer ihr hier.

„Nein, nein, nein, nein!", schrie ich zurück, doch wer würde es hören? Ich rannte noch schneller. Das Gewicht der Tasche in meinem Rücken spürte nun allzu deutlich.

„Es nützt nichts, wenn du wegrennst!" Mein Blickfeld verschwamm und schwarze Punkte tanzten mir vor den Augen.

Ich bog um eine Ecke und konnte noch gerade auf die Straße springen, als mir ein Kind entgegenkam. Trotzdem stolperte das Kind und fiel hin. Es fing an, fürchterlich zu weinen und zu schreien.

„'Tschuldigung", nuschelte ich nur und rannte dann unbeirrt weiter. Den Blick des Kindes spürte ich auf mir, doch das war im Moment egal. Normalerweise hätte ich dem kleinen Jungen geholfen.

Noch die Straße runter, dann links und dann hätte ich es geschafft. Doch als ich links abbiegen wollte, stand ich vor einem Hindernis. Abrupt stoppte ich. Die Straße war komplett gesperrt. Seit wann ist diese Absperrung da? Schon seit heute Morgen? Ich konnte mich nicht daran erinnern.

„Jetzt bleib endlich stehen!"

Ich sprang über die Absperrung, kam bei der Landung ungünstig auf und knickte mit dem Knöchel um. Ich fluchte, humpelte weiter. Ignorierte das dumpfe Pochen. Stehen bleiben konnte ich nicht. Wollte ich nicht. Die Panik war zu groß.

Jetzt nahm ich nichts mehr wahr, weder die Häuser, an denen ich vorbeirannte, noch die Autos, die über die Straße fuhren. Auch keine anderen Menschen. Da vorne stand mein Haus. Schnell jetzt. Immer noch hatte ich das Gefühl, verfolgt zu werden. Immer noch sah ich niemanden.

Ich stieß das Gartentor auf. Viel zu fest, es stieß gegen den Zaun und erzitterte. Doch das nahm ich nur am Rand wahr. Hektisch durchsuchte ich meine Tasche nach dem Schlüssel. Mit einem schnellen Handgriff nahm ich ihn heraus. Noch einmal blickte ich mich um. Ich hätte schwören können, eine Bewegung aus den Augenwinkeln gesehen zu haben. Wie sehr meine Hände zitterten, merkte ich erst, als ich die Haustür aufschließen wollte. Ich brauchte vier Versuche, bis der Schlüssel steckte. Dabei hinterließ ich neue Kratzer neben dem Schloss.

„Ich will nur mit dir reden!" Die Stimme schien von überall und nirgendwo zu kommen. Es schien fast, als wäre sie direkt in meinem Kopf. Ich schlüpfte durch die Tür und schmiss sie zu.

Ich lehnte mich von innen gegen die Haustür. Atmete durch. Mein Herz rannte so schnell wie vor kurzem noch ich. Meine Hände zitterten und erst jetzt bemerkte ich den Schweiß, der kühl meinen Nacken hinunterfloss. Mein Knöchel pochte dumpf.

Da ich keine Kraft mehr hatte, ließ ich mich auf den Boden fallen und wartete ein paar Minuten, ehe ich wieder einigermaßen ruhig war.

Einatmen. Ausatmen. Ich klopfte mit meinen Fingern aufeinander. Egal was da draußen passiert war, jetzt war ich zu Hause. Oder zumindest hinter einer abgeschlossenen Tür und in Sicherheit. Hoffte ich. Tief holte ich Luft.

„Mikey", hallte meine Stimme durch das leere Haus. Erst jetzt kam es mir seltsam vor, dass der Hund nicht angerannt gekommen war, als er gehört hatte, dass die Tür aufging.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt