-20- Von Vergangenheit und Zukunft I

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Ich folgte dem Fluss bis zum Ende. Bis zu der Stelle, an der das Wasser mit einem Tosen ins Nichts stürzte. Hier setzte ich mich in das nasse Gras, dessen Kühle sofort meine Hose durchdrang. Ich starrte in den Abgrund. Es war eine unsichtbare Tiefe, verborgen hinter dem dichten Nebel der Wasserteilchen, die sich durch den Wasserfall in der Luft sammelten. Die kleinen Wasserteilchen, die in der Luft schwirrten, sorgten für Nebel. Sie hüllten die ganze Umgebung in einem Dunst, sodass ich nicht sehen konnte, was am unteren Ende des Wasserfalls lag. Oder auch auf der anderen Seite des Flusses. Immer wieder kamen Raben über den Wasserfall geflogen. Schatten im grauen Nebel. Manche waren klein, andere groß, aber alle waren beeindruckend. Und alle hielten sie alles zusammen.

Aus welchen Welten kommen sie wohl gerade?  Doch das war nicht der Pfad, dem meine Gedanken folgen wollten.

Auch wenn ich es bevorzugt hätte, einfach hier zu sitzen, dem Rauschen zu lauschen und an nichts zu denken, setzte ich einen Fuß auf den Pfad, der sich gerade vor mir aufgetan hatte.

Missfiel mir der Gedanke, dass mein Leben eine Lüge war? Fast kam ich mir vor, als wäre ich eines der Wasserteilchen, das vor mir in der Luft schwebte. Mein ganzes Leben lang wurde mir gesagt, mein Leben würde daraus hinauslaufen am Ende den Wasserfall zu erreichen und in die Tiefe zu stürzen, um dort weiterzuleben. Stattdessen war ich eines der wenigen Wassermoleküle, das in der Luft schwebte. Nichts war so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Ich war erschüttert und spürte ein Wanken in mir. Als wäre mein Leben ein wackeliges Kartenhaus, das nun in sich zusammenstürzte. Von dem ich bisher gedacht hatte, es wäre ein stabiles Haus, eine Selbstverständlichkeit. Doch die Karten lagen nun auf dem Boden verstreut. War das so schlimm? Oder konnte ich nun etwas anderes, besseres aus meinen Karten machen? Denn vielleicht hatte mein Haus aus genau den Karten bestanden, die ich brauchte, um das Spiel zu gewinnen, nur dass ich sie bisher verschwendet hatte. Damit, ein lächerliches Haus daraus zu bauen, statt sie auszuspielen. Ein Fehler, den ich beheben konnte, sobald ich wusste, wie ich dieses Spiel spielen musste. Und dann konnte ich gewinnen. Vielleicht war es für mich genau richtig, dass mein Kartenhaus zusammenstürzte und nicht wie bei den anderen stehenblieb.Wäre es schlimm, wenn mein Leben anders war oder könnte ich etwas anderes, besseres daraus machen? Vielleicht war es für mich genau richtig, hier zu schweben und einen anderen Weg zu gehen, als die anderen. Ein Kreis schloss sich, als ich an Sophie dachte. War sie hinabgestürzt, gewissermaßen? Vielleicht war es auch weder besser noch schlechter, sondern einfach anders.

Ich konnte verstehen, warum er so lange dazu geschwiegen hatte. Und auch, wenn mir die Folgen meines neuen Wissens noch nicht bewusst waren, machten sie mir keine Angst. Fast jedenfalls. Sie beruhigten mich. Hatte ich deswegen all die Jahre diese Ablehnung durch meine Eltern erfahren? Aber war es besser, solche Eltern zu haben, als gar keine? Plötzlich war er wieder da, dieser Umhang der Trauer. Diesmal gesellte sich noch ein neues, feines Stickmuster darauf: der Verlust einer Familie, die ich nie gekannt hatte. Es möchte verrückt klingen, aber es ging. Genauso wie ich ein Leben in mir spürte, das ich nicht gelebt, sondern verpasst hatte. Wie anders wäre es verlaufen?

Noch wichtiger war für mich die Frage, was ich meinen Freunden sagen sollte. Wenn ich sie wiedersehen würde. Ich schüttelte den Gedanken von mir wie Dreck. Es ging nicht um ein ob, sondern um ein wann. Wenn meine Aufgabe hier erfüllt war, würde ich herausfinden, woher genau ich kam. Und dann wieder zurückkehren. Oder nicht? Sollte ich hierbleiben, hier, in meiner Heimat? Ich fand es selbst überraschend, wie schnell es mir gelungen war, diese Tatsache zu akzeptieren. Aber es war dieses innere Gefühl von Richtigkeit, fast so, wie ich es damals, beim Essengehen mit meinen Freunden, erlebt hatte.

Was sollte mich also davon abhalten, hier zu leben und meine Freunde regelmäßig zu besuchen?

Als die Sonne am Horizont aufstieg, tauchte sie den Wassernebel in ein orangenes Licht, das mich wieder an die Schuppe denken ließ. Noch etwas, das Arokin mir genommen hatte. Dabei hatte sie mich gerufen, davon war ich mittlerweile überzeugt.

Lihambra - Geheimnis der RabenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt