„Das letzte Mal hat zwar auch niemand auf mich gehört", sagte Nico, als er in den Pavillon marschierte, „Aber dieses Mal noch einmal sehr nachdrücklich: das ist eine beschissene Idee."
Cress öffnete ein Auge und sah ihn missbilligend an. Sie hatte in der Mitte des Steinrunds gesessen und versucht, ihre Gedanken zu sortieren.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst."
Van Garde verschränkte die Arme vor der Brust und sah so finster drein, dass Cress auch ihr zweites Auge öffnete.
„Julian und dich ohne Aufsicht zusammen irgendetwas planen zu lassen ist noch nie gut ausgegangen."
Van Garde zog sich sein Hemd über den Kopf und pfefferte es zur Seite. Er hörte keine Sekunde auf, sie auszuschimpfen, während er sich umzog.
„Verdammte Alessandrini Hochmütigkeit. Und diese Yorda Sturrheit dazu."
Cress wartete, bis er wieder voll angezogen war, bevor sie aufstand und sich den Dreck von den Handflächen rieb.
„Es wird funktionieren", sagte sie selbstsicher. Dabei wurde ihr allein beim Gedanken an den Plan ganz anders.
„Ja genau", sagte Nico. „Auf in die Höhle des Löwen mit dem Plan, dass du durch deine Atheneumsinstinkte deinen Auftraggeber erkennst und baue darauf, dass dreihundert Atheneumsabsolventen dich nicht anhand der gleichen Kriterien erkennen."
Sie standen sich inzwischen gegenüber und schrien sich an.
„Sie denken, ich bin tot. Niemand sucht nach mir."
„Das heißt gar nichts. Du wirst bei weitem nicht der intelligenteste Mensch im Palast sein. Julian genauso wenig. Wir sind alle Kinder in den Augen der eigentlichen Regenten dieses Landes."
Cress bekam das ungute Gefühl, dass er Recht hatte, aber an diesem Punkt war aufgeben keine Option mehr.
„Es ist die beste Chance, die wir haben. Immerhin tue ich irgendetwas, anstatt zu warten, dass mich jemand entdeckt und ein Bürgerkrieg ausbricht, der vermutlich die Menschheit vernichten würde."
„Oh bitte", sagte Nico. „Du weißt erst seit ein paar Tagen, was du bist und schon nutzt du dieses Wissen für eine Sache: noch größere Dummheiten zu machen, als davor."
„Es wird funktionieren."
„Nein, es kann funktionieren. Es kann aber genauso gut schief gehen."
Nico beugte sich vor.
„Und unter uns, weil wir gewissermaßen zusammen aufgewachsen sind: Lass dich nicht schon wieder von ihm benutzen."
Cress reckte das Kinn.
„Van Garde, es war meine Idee."
„Sterne", schrie Nico ihr ins Gesicht. „Du kannst gerade erst wieder zuschlagen. Das nützt dir nichts im Palast."
Cress nahm ihn bei den Schultern. Der Kristall löste sich von ihrer Brust und baumelte zwischen ihnen in der Luft.
„Ich will wissen", sagte sie. „Wer mich in die Narben geworfen hat. Es ist der einfachste Weg. Ihr habt Wochen gehabt, um es herauszufinden und habt es nicht geschafft. Ich brauche einen Abend."
Nico schüttelte den Kopf. Er deutete mit der Hand auf sie.
„Du sagst, du willst nicht, dass das Horrorszenario eintritt, das Juli dir gemalt hat? Dann wäre es klug, dich so weit fernzuhalten vom Palast wie möglich. Nicht mitten hineinzumarschieren."
Cress spiegelte seine Geste und hob ebenfalls die Hände, aber mehr verzweifelt.
„Nenn' mir einen Ort auf der Welt, van Garde, an dem mich der König niemals finden kann. Einen einzigen."
Nicos Nasenflügel blähten sich. Doch bevor er antwortete, fiel sein Blick auf ihre Hand und er schloss den Mund. Van Garde griff ruckartig nach Cress Handgelenk und sie hätte ihm zur Antwort beinahe noch einmal die Nase gebrochen.
Nico starrte auf ihre Hand, fast wie der Cyborg mit dem Tattoo. Nur, dass es nicht der Tintenvogel war, der seinen Blick auf sich gezogen hatte.
„Cress", sagte er. „Was hast du da?"
Sie wollte ihre Hand vor ihm verstecken und wartete auf einen dummen Kommentar, aber Nico schien ehrlich geschockt. Sie riss sich los.
„Ist der von Juli?", fragte er und meinte damit den Ring. Sie antwortete nicht.
„Weißt du, was das ist?", fragte er nervös und fuhr sich gestresst durch die Haare. Nervosität stand van Garde nicht.
„Meine Mutter hat ihn geschmiedet", sagte sie. „Ich behalte ihn."
Meine Mutter. Cress hätte sich fast die Zunge abgebissen. Nico nickte, sah kurz weg, als überlegte er, ob er es wirklich sagen sollte:
„Das ist der Ring, mit dem Julian um Victorias Hand angehalten hat."
Cress wurde kalt. Sie spreizte ihre Finger. Das Metall schmiegte sich um die Basis ihres Ringfingers, als wäre es speziell dafür geschmiedet worden. Was es auch war.
„Ich dachte den Verlobungsring trägt René", flüsterte sie.
Nico schüttelte langsam den Kopf. Er schien genauso mitgenommen vom Anblick des Rings, wie Cress von seiner Offenbarung. Victoria cara. Ein Verlobungsring mit dem Familienmotto?
„Nein, sie trägt den Alessandrini Verlobungsring. Der ist mehr Formsache, ziemlich großer Diamant drauf. Was du da hast, ist der Ring, mit dem er ..."
Cress zog ihn sich vom Finger und Nico verstummte.
„Was?", fragte sie Nico, nachdem sie mehrere Momente das Schmuckstück betrachtet hatten.
„Ich bin überrascht, dass er ihn dir gegeben hat."
Cress verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wieso?"
„Nun, du bist nicht Victoria", sagte er schlicht und wartete, bis die Worte eingesickert waren. Cress reckte das Kinn, mit einem Mal trotzig. Van Garde lächelte leicht. Sie steckte den Ring wieder an und präsentierte ihn demonstrativ, indem sie ihm den Mittelfinger zeigte.
„Oder doch?", fragte van Garde.
„Du", knurrte Cress. „Weißt wirklich nicht, wie du dir Freunde machst."
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Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]
Fiksi IlmiahIn den Narben, tiefen Schluchten am Rande der Hauptstadt eines Imperiums in der Zukunft, ist Cress Cye als rechte Hand eines Verbrecherfürsten gefürchtet. Die alten Monster, die dort in den Tiefen leben, kennt sie gut. Doch als eines davon so viel S...