77 - Arete Insel, Pavillon

53 14 0
                                    

Als Nicholas van Garde an diesem Abend zum Pavillon kam, war seine Nase wieder gerichtet und er freute sich diebisch auf eine gute Trainingseinheit. Er hätte es niemals zugegeben, aber er hatte den höchsten Spaß daran, mit Cress Cye zu trainieren. Ihr Stil war unkonventionell und rüpelhafter, als es die Waffenmeister im Atheneum jemals geduldet hätten. Er beobachtete, wie sie vorging und machte sich mentale Notizen, die vielleicht eines Tages wichtig werden würden, wenn sein Cousin wieder eine seiner brillianten Ideen hatte, die sie alle in die Narben hinunter und mit einem Fuß ins Grab brachten. Cress Cyes Haare standen an diesem Morgen noch wilder ab als sonst. Er hatte noch keinen Bettler mit einer schlimmeren Frisur gesehen. Außerdem war sie blass, aufgewühlt und unkonzentriert, das sah man aus zehn Metern Entfernung. Nico stellte seine Sachen am Rand des Pavillons ab und zog seine Jacke aus.

„Wieso seht Ihr so beschissen aus?", fragte er.

Sie grüßten sich nie, das fand er sehr angenehm. Nicht so angenehm war ihm ihr erster Satz.

„Erzählt mir von Julian."

Er wusste sofort, dass es ein anstrengender Tag werden würde.

„Ah ja, eine meiner Lieblingsfragen von Damen in meinem Alter", ächzte Nico.

„Selbstmitleid steht Euch nicht, van Garde."

Nico schnaubte und stützte die Hände in die Seiten.

„Was wollt Ihr wissen? Ich weiß alles. Wirklich alles. Und: was bekomme ich dafür?"

„Gnade", schlug sie vor und Nico verdrehte die Augen.

„Ach, Täubchen, sei ein bisschen kreativ."

Er tat entspannt, doch das war er nicht. Dass Julian endlich mit ihr gesprochen hatte, lag unter anderem daran, dass René, Will und er selbst ihn massiv unter Druck gesetzt hatten. Was er ihr gesagt hatte, wusste aber keiner von ihnen. Was sie wusste und ob sie die ganze Wahrheit kannte, blieb zweifelhaft. Nico musste vorsichtig sein, um keinen Schaden anzurichten. Zumindest, was seine Worte anging. Sie flog auch schon auf ihn zu und schlug ihm die Luft aus den Lungen. Irgendwann legten sie eine Pause ein, weil sie zu Humpeln begann. Nico verkniff sich einen zweideutigen Kommentar zu ihrer Fähigkeit zu laufen unter größter Willensanstrengung. Fünf Minuten Pause waren erlaubt, in denen sie in der warmen Sonne saßen.

„Fragt", machte er, während er eine Schwellung an seinem Finger betastete. „Bevor ich es mir anders überlege. Die wirklich wichtigen Dinge, natürlich, zum Beispiel ..."

„Wieso ist er ins Exil gegangen?", schnitt sie ihm das Wort ab.

Nico ließ seine Hand sinken. Er überlegte einen Moment, den Blick auf die Wälder gerichtet, die sich über die kleine Insel zogen. In der Ferne konnte man gerade noch den Giebel des Anwesens ausmachen.

„Was hat er gesagt?"

Sie zögerte und atmete dann ein einzelnes Wort aus:

„Meinetwegen."

Nico wiegte seinen Kopf hin und her.

„Halbwahrheit."

„Ich wusste es."

„Wieso denkt Ihr, würde ich Euch die Wahrheit sagen?", hakte er mit einem interessierten Seitenblick nach. Ihre Augenringe waren schlimmer als die seines Cousins und sie roch wie eine ganze Destillerie. Seine Soldaten waren nach Samhain in einem besseren Zustand.

„Ihr hasst mich zu sehr, um viel Aufwand in Lügen zu stecken, Ihr würdet einfach nichts sagen."

Guter Punkt, auch wenn Nico ‚Hass' für ein starkes Wort hielt. Er musterte sie.

„Er ist gegangen, weil es der König war, der Euch beseitigt hat. Sein Vater. Julian ist sehr mächtig, aber im Palast ist er gebunden und unfreier als wir alle zusammen. Vor allem, wenn mein Onkel anwesend ist. Bis er selbst die Krone trägt, ist er machtlos gegenüber seinem Vater. Das Einzige, was er tun konnte, die einzige Rebellion, die ihm offenstand, war Flucht. Noch an dem Tag, als klar wurde, dass es keine Chance mehr auf Euer Überleben gab, ist er nach Katania aufgebrochen."

„Um seinem Vater eins auszuwischen."

„Unter anderem um ihn zu demütigen. Das Einzige, was den König wirklich trifft. Demütigung."

„Ihr denkt also auch, dass ich sie bin. Seine tote Verlobte."

„Nein", sagte er entschieden. „Macht Euch nicht lächerlich."

Nico hatte eine Mohnblüte, die neben der Treppe wuchs, gepflückt, und begann die einzelnen Blätter abzuzupfen.

„Er lügt?"

„Nein."

Sie beobachtete, wie der Saft der Blume seine Finger färbte.

„Es ist lächerlich, wenn Ihr von ihr, von Euch, als seine Verlobte sprecht, bevor Ihr sie beim Namen nennt. Das ist nicht der Grund, wieso sie geachtet wurde. Er ist nicht der Grund, wieso man sich an sie erinnert und nur ein kleiner Teil davon, wieso man sie kannte."

Er warf den Stängel weg und sah sie an.

„In diesen Hallen ist Demut eine Dummheit. Schönheit ein Metzger. Das wusste sie besser als jeder andere. Sie und Julian."

Van Garde war ernst geworden, kein spitzbübisches Funkeln mehr in den Augen.

„Er hat die Rebellion in Katania innerhalb einer Woche niedergeschlagen", erklärte Nico leise. „Glaubt mir, die Wut über den Mord an seiner Verlobten haben Menschen zu spüren bekommen. Julian ist kein Heiliger. Ein guter Mensch möglicherweise, aber einer mit Macht. Er ist ein Prinz, der gerade klug genug war, sich weit genug von seiner Heimat zu entfernen, um diese nicht mit sich in den Untergang zu reißen. Der seine Familie vor sich selbst beschützt hat, oder glaubt das getan zu haben. Es so gut getan hat, wie er konnte."

Er lehnte sich zu ihr vor.

„Wenn ich dir einen Rat geben darf, kleiner Geist: Verliere dich nicht in der Vergangenheit, wie auch immer diese aussieht. Das wichtigste ist: du bist nicht wehrlos. Das wissen wir beide. Wenn du es wärst, hätten sich nicht so viele Augen auf dich gerichtet."

Van Garde stand auf und hielt ihr eine behandschuhte Hand hin. Cress ließ sich von ihm auf die Beine ziehen.

„Ihr hättet mich alles fragen können zu Eurem Leben", sagte Nico. „Aber Ihr fragt mich nach meinem Cousin? Ich bin schwer enttäuscht."

„Ich bin noch nicht bereit dafür, mir von Euch erklären zu lassen, wer ich bin, van Garde."

„Werdet Ihr das je sein?"

Sie antwortete nicht und trat zurück in das Zentrum der Pavillons.

„Ihr haltet Euch zurück", wechselte Cress das Thema. „Hört auf damit."

Nico machte ein beleidigtes Gesicht. Innerlich kicherte er wie ein Wahnisnniger. Die Herausforderung war klar, die Intention auch. Sollte sie gegen Julian antreten, wollte sie gewinnen.

„Wisst Ihr, man könnte es als Hochverrat bezeichnen, sich aufzuschwingen, dem Kronprinzen ebenbürtig zu sein."

„Kommt her", befahl sie. „Und hört auf, mich mit Samthandschuhen anzufassen."

Nico tat etwas riskantes. Er nahm die Bemerkung wortwörtlich, streifte sich die Handschuhe von den Händen und warf sie zur Seite. Cress beobachtete ihn stirnrunzelnd.

„Wie habt ihr das denn herausgefunden?", grinste er. „Ich hatte den Eindruck, ich unterhalte Euch hervorragend."

„Ich hatte ein intensives Gespräch mit Eurem Cousin."

Nico lachte auf. Natürlich hatte sie das gehabt. Da hätte er sich zu gerne hinter einem Vorhang versteckt. Er konnte sich bildlich vorstellen, wie sie Julian herausgefordert hatte, weil er Victoria oft dabei zugesehen hatte. Etwas, das er selbst wirklich ungern tat, weil es wirklich so gut wie keine Gründe gab, sich in so gefährliches Territorium zu wagen. Bei der Anspannung, unter der Cress und Julian standen, wunderte es ihn, dass es so lange gedauert hatte, bis die Fetzen geflogen waren. Wie in den guten alten Zeiten.

„Na dann", sagte er und hob mit blitzenden Augen die Fäuste. „Ist es zu früh für ein: willkommen in der Familie?"

Sie warf sich mit einem unmenschlichen Schrei auf ihn.

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt