Das Vertrauen des Menschen war ein sprunghaftes Ding. In der einen Sekunde war es ein sturmumtostes Kliff inmitten des Ozeans, abgeschliffen und rau von zahllosen Jahrzehnten zwischen den Wellen, in der nächsten nichts weiter als ein Birkensetzling, der unter dem leisesten Windhauch umknicken und zerbrechen könnte.
Bis vor ungefähr einer halben Stunde hätte Lova ihre Welt mit Leichtigkeit einteilen können: Viggo war der Böse, derjenige, der ihre Insel und ihr Leben zerstört hatte, Ivar war ihr Verlobter, der sie aus ihrer Lage befreien würde und Illian stand irgendwo dazwischen.
Schwarz, weiß und grau – die Rollen waren klar verteilt gewesen.
Bis ein weiterer Verrat ihre Prioritäten verworfen und neu ausgerichtet hatte. Plötzlich war ihr ehemaliger Verlobter derjenige, vor dem sie floh, während sie ein verletztes Flügelmädchen durch Höhlengänge trug und Viggo Grimborn folgte, dem sie wenige Minuten zuvor einen Antrag gemacht hatte. Einen eventuellen Antrag, mit einem riesengroßen Vielleicht darüber, aber dennoch unleugbar eine Grenze, die sie überschritten hatte.
Was immer geschah, ob sie entkamen oder nicht, diese Verlobung würde für immer zwischen ihnen stehen – obwohl es für diesen metaphorischen Birkensetzling besser wäre, wenn sie ihn samt Wurzeln aus der Erde rissen und verbrannten, bis nur noch Asche übrigblieb.
„Sobald wir entkommen, sollten sich unsere Wege trennen", sagte Lova mit gesenkter Stimme. „Ich bin mir sicher, jeder von uns hat einen eigenen Ort, an den wir zurückkehren können, oder?"
Elin, die sich an Lovas Rücken klammerte und das Gesicht an ihrer Schulter vergraben hatte, brummte zustimmend. „Flügelmädcheninsel", stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich freue mich schon."
„Natürlich tust du das." Viggo sah über seine Schulter zu ihnen und schenkte Elin ein spöttisches Lächeln. „Mit etwas Glück platzt du in deine eigene Beerdigung und erhältst eine Willkommensfeier und ein Festmahl."
„Oh, haha." Elin zeigte eine rüde Geste in Viggos Richtung, ehe sie das Kinn auf Lovas Schulter abstützte. „Und wohin wirst du gehen?"
„Ich weiß es nicht", erwiderte Lova und tippte sich gegen die Stirn. „Gedächtnisverlust, du erinnerst dich? Ich weiß nicht einmal, an welchen Orten ich überhaupt willkommen bin."
„An sehr wenigen, zugegebenermaßen." Es war auffällig, dass Viggo sich nicht davor scheute, Elin anzusehen, aber Lovas Blick selbst dann noch auswich, als sie mit ihm sprach. „Vieles davon ist wohl meine Schuld, aber... nun, das Inselreich ist glücklicherweise recht groß."
„Wie tröstlich." Lova hielt mühsam ein angestrengtes Ächzen zurück, als sie ihr Tempo beschleunigte, um mit Viggo Schritt zu halten. Er sah sie noch immer nicht an, doch seine Augen huschten für den Bruchteil einer Sekunde über ihr Gesicht, als sie neben ihm auftauchte. In dem Licht der Fackeln strahlten die helleren Sprenkel darin in der Farbe von flüssigem Gold. „Irgendwelche Reiseempfehlungen?"
„Für den Anfang?", fragte Viggo, als er abrupt zum Stehen kam und Lova an den Schultern festhielt, ehe sie gegen die Tür in der Steinwand rannte. „Nicht blindlings loslaufen, keine Erkundungstouren ohne Orientierung und tu mir einen einzigen Gefallen: meide die Insel der Beschützer des Flügels."
Lova stützte sich an der Tür ab und half Elin von ihrem Rücken, während sie dem robusten Holz finstere Blicke zuwarf. „Ich schwöre, diese Tür ist aus dem Nichts gekommen", murmelte sie und wurde Zeuge, wie Viggos Mundwinkel verräterisch zuckten. „Nur aus Interesse...", sagte Lova eilig, um die Belustigung aus seinem Blick zu vertreiben. „Warum genau sollte ich diese Beschützer des Flügels meiden?"
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Forget-me-nots
FanfictionEinige Monate sind vergangen, seit Viggo und Lova auf der Insel der Beschützer Zuflucht gefunden haben. Doch nicht nur das Misstrauen von Königin Mala zerren an den Nerven der Beiden, sondern auch alte Feinde und Erinnerungen, die sie lieber begrabe...