Kapitel 19

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Eine Ewigkeit lang sah Viggo nur sie.

Regentropfen perlten über Lovas Gesicht, ihre dunklen Locken klebten auf ihren Wangen. Ihre Augen hatten tatsächlich dieselbe Farbe wie die Sturmwolken in ihrem Rücken, ganz wie Viggo es prophezeit hatte. Geronnenes Blut haftete an ihrer Stirn, wo es sich mit den frischen Spritzern aus Carrs Hinterkopf mischte. Der Speer in ihren Händen war so scharf, dass sein bloßer Anblick die verbliebenen Männer zurückschrecken ließ und in Lovas Blick lag dieses Funkeln; dieses Funkeln purer Rachsucht. Soweit Viggo wusste, war sie nie schöner gewesen.

Dann bröckelte das Gestein unter seinen Händen, und er fiel.

„Viggo!"

Er hatte Lova niemals so schreien hören. In der einen Sekunde war sie voller Wut, in der nächsten war ihre Stimme schrill vor Angst und Verzweiflung. Sie streckte die Hand nach ihm aus, Kieselsteine rutschten unter ihren Füßen weg, als sie zum Felsrand stürmte. Regen lief über ihre Wangen, und ihr Mund war in Unglaube geöffnet.

„Nein!"

Für Viggo gab es keinen Sturz, sondern nur den kühlen Wind währenddessen und den dumpfen Schmerz des Aufpralls danach. Er fiel zwar, doch er tat es, weil er sich in Lovas Augen verlor. Er war der Überzeugung, dass er ohnehin sterben würde. Dreimal hatte Viggo sein Glück herausgefordert und war dem Tod von der Schippe gesprungen, doch dieser Sprung würde sein Ende sein. War es nicht immer auf diesen Moment hinausgelaufen?

Grüne Schuppen blitzten über ihm auf, leuchtend rote Augen musterten ihn hungrig. Von einem breiten Maul mit scharfen Zähnen tropfte Speichel auf Viggos Stirn. Sein Leben lang hatte er Drachen gejagt. Es war die Ironie des Schicksals, das er durch einen Drachen sterben sollte. Viggo hätte ahnen müssen, dass es so enden würde.

Die Schwanzspitze des Schnellen Stachels bohrte sich in Viggos Brust, Widerhaken stachen ihm ins Fleisch. Das Gift pulsierte wie ein schwellendes Feuer unter seiner Haut und jagte durch seine Adern, lähmte seinen Körper, seine Sinne.

Er sah gen Himmel, während er die Kontrolle verlor. In seiner letzten Regung richtete er den Blick auf die Sturmwolken, während der Regen seine Kleidung durchnässte.

Und in seiner letzten, bewussten Sekunde dachte er daran, wie ähnlich Lovas Augen den Wolken waren.

~

Als Viggo fiel, spürte Lova wieder die Hitze des Vulkans.

Sie hatte all das schon einmal gesehen, nur mit dem orangenen Schein von Lava anstelle der Regentropfen auf seinem Gesicht. Wie bei seinem ersten Sturz erschütterte ein Schrei die Welt, doch diesmal kam er aus ihrem Mund.

„Viggo!" Lova rutschte auf dem nassen Gestein, kleine Kiesel rollten unter ihren Füßen weg und fielen den Hang hinab. Sie verfluchte den Fels, verfluchte den Regen, verfluchte die ganze Welt mit einem einzigen Wort, als sie auf die Knie sank und sich über die Felskante beugte.

„Nein!" Lova sah ihn an, und für sie blieb die Zeit stehen.

Der Schnelle Stachel ragte über ihm auf, die Spitze seines Schwanzes in Viggos Brust vergraben. Lova dachte sofort, dass die Wunde größer sein müsste, doch durch die zerfetzte Tunika erkannte sie nur ein feines Rinnsal Blut. Wüsste sie nicht um die paralysierende Wirkung, die das Gift eines Schnellen Stachels hatte, so würde sie erwarten, dass Viggo jeden Moment aufstand und um sein Leben kämpfte. Doch das konnte er nicht.

Viggo starrte gen Himmel, sein Gesicht eine schmerzverzerrte Grimasse. Das Gift verschleierte seinen Blick, unberührt und bewegungslos wie ein Toter lag er da. Seine Adern traten überdeutlich hervor und zogen sich dunkelblau über seine entblößten Arme, seine leichenblasse Stirn. Sein Anblick versetzte Lova zurück auf die Drachenklippe (wo sie an seinem Bett gesessen hatte, während die Wunde in seinem Bauch das Leben aus ihm saugte).

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