Kapitel 44

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Durch die graue Wolkendecke brach ein Schimmer goldenes Sonnenlicht. Er vertrieb die Kälte nicht, die sich in der Erde festsetzte und dem Gras ein silbernes, frostiges Glitzern verlieh, doch es kitzelte warm auf Lovas Nasenspitze. In der Luft hing neben dem Geruch nach modrigem Laub auch der nach Schnee. Das Inselreich stand kurz vor dem Wintereinbruch.

Sie fröstelte, als ein kalter Windzug durch ihr nasses Haar fuhr, und ließ beinahe ihre Nadel fallen. Die Spitze blieb in den Lederplatten der Rüstung stecken, an denen Lova gerade Drachenschuppen anbrachte. Die dunklen Schuppen des Skrills leuchteten violett im Sonnenlicht.

„Viggo?" Lovas Stimme durchbrach die unheimliche Stille. Bis auf das leise Plätschern des Baches, der neben der Höhle entlang floss, war die winzige Insel völlig lautlos. Selbst das Kreischen der Möwen blieb aus, weil der kleine Fleck Land kaum groß genug war, um ein einziges Lebewesen zu ernähren. Geschweige denn einen ganzen Schwarm Seevögel oder einen hungrigen Drachen. Es war kein Wunder, dass selbst der wasserscheue Skrill seine Nahrungssuche auf den Ozean verlegt hatte.

Viggo hielt inne und sah zu ihr, einen Kamm in den Händen. Bisher hatte er ihre nassen Locken gekämmt, während sie an seiner Rüstung nähte, doch bei ihrer Frage richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf sie. „Ja, meine Liebste?"

Ein Hauch von Wärme durchfuhr sie bei seiner liebevollen Anrede, obwohl Angst und Wut wie Steinbrocken auf ihren Schultern lasteten. Lova hatte eine Hälfte der Nacht hellwach gegen die steinernen Höhlenwände gestarrt und sich die andere Hälfte mit Albträumen umhergewälzt. Bei einem prüfenden Blick in die spiegelnde Wasseroberfläche des Bachs blickten ihr müde Augen entgegen, untermalt von tiefen, dunklen Ringen.

Doch jedes Mal, wenn sie verschwitzt und schreiend aus dem Schlaf hochgeschreckt war, hatte Viggo sie zurück in seine Arme gezogen und auf sie eingeredet, bis sie zur Ruhe kam.

„Wann brechen wir auf?" Die Stille der Insel nagte an Lovas Verfassung, ganz zu schweigen von Varias Abwesenheit. Sie wollte zurück zu ihrem Sturmschneid, zurück zu der wankelmütigen Normalität, die sich vor ihrem Aufbruch nach Berk zwischen ihnen ausgebreitet hatte. Nach ihrer Flucht von der Insel der Beschützer waren aus Gewohnheiten stetig Routinen geworden, und aus zwei Menschen samt ihren Drachen ein kleines Rudel, eine winzige Familie.

Jede Sekunde, die Varia in den Händen der westlichen Jäger verbrachte, stellte diese Familie vor eine Zerreißprobe.

„Wann immer du bereit bist." Viggo trennte eine Strähne von ihrem Haarschopf und fuhr geschickt mit dem Kamm durch die zerzausten Locken. Es war eine weitere der vielen Angewohnheiten, die sie sich während der kurzen Dauer ihrer Freiheit angeeignet hatten – Lova erlaubte sich, die frische Morgenluft zu genießen, und Viggo kämmte ihr Haar. Wenn einer seiner vielen Feinde den ehemaligen Drachenjäger sehen könnte, so hätten sie vermutlich nicht mehr hervorgebracht als ein verblüfftes Starren. „Allerdings glaube ich, dass wir nicht zu viel Zeit verstreichen lassen sollten. Wir sollten uns auf den Weg machen, ehe die Spuren verschwinden."

„Spuren?", wiederholte Lova irritiert. „Welche Spuren sollte ein Schiff schon hinterlassen?"

Viggo löste mit einem Ruck einen besonders hartnäckigen Knoten und trennte anschließend sorgfältig die nächste Strähne von ihrem Haar ab, ehe er ihr antwortete. „Selbstverständlich keine sichtbaren Spuren", sagte er. „Doch solange wir nicht wissen, wo die Drachenjäger ihre Beute verkaufen, können wir den Sturmschneid auch nicht finden. Ich schlage also vor, dass wir nach Westen fliegen und auf dem Weg bei jedem fahrenden Händler und jedem kleinen Dorf versuchen, Hinweise zu erfragen."

Lova schnaubte und zog die nächste Naht so fest, dass die Schnur beinahe riss. „Weil uns Dörfer und Händler ja schon immer soviel Glück gebracht haben."

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