Kapitel 3

54 6 0
                                    

Als Lova auf die Insel der Beschützer zurückgekehrt war, hatte sie jeden Tag trainiert – ganz gleich, mit welcher Waffe. Was immer ihr in die Finger gekommen war, von Pfeil und Bogen bis zum Morgenstern, sie hatte Techniken über Techniken studiert, bis sie fast zusammenbrach. Wann immer sie ihr Spiegelbild in einer silbernen Schneide gesehen hatte, war es ihr einziger Beweis gewesen, dass sie noch am Leben war. Ihre Wangen waren rot gewesen vor Anstrengung und Wut, ihre Stirn blass und ihre Augen grau wie Asche. Solange sie in Bewegung war und eine tödliche Waffe in den Händen hielt, hatte sie der Rastlosigkeit und der Panik entkommen können. Sobald sie allerdings die Augen geschlossen hatte, hatte sie Viggos reglosen Körper gesehen, auf einer Pritsche in Adajas Hütte. Damals hatte sie nicht gewusst, ob er leben oder sterben würde.

Für Lova war die Sache klar gewesen; Viggo trug seinen Kampf gegen die Götter aus, und wenn sie nicht seinen Platz einnehmen könnte, so würde sie mit ihm kämpfen und mit fremden Waffen unsichtbare Gegner schlagen. Es hatte sie bei Verstand gehalten.

Und dann war Viggo aufgewacht. Er hatte überlebt, und nichts war mehr wie früher gewesen.

Es hatte damit angefangen, dass er nicht aufstehen konnte. Seine Muskeln waren geschwächt, nachdem er wochenlang in einem Bett gelegen hatte. Adaja hatte sich alle Zeit der Welt genommen, um sich Übungen auszudenken, die Viggos Körper wieder stärken würden. Mit endloser Geduld hatte sie seinen Protest ertragen, während Lova bei jedem seiner Schmerzensschreie zusammenzuckte.

Als Viggo dann wieder langsam gehen konnte, ohne sofort wieder in seine Pritsche zu stolpern, hatte Lova die Waffen niedergelegt. Ihr Köcher leerte sich und ihre Dolche verstaubten in einer Ecke. Selbst ihren Langbogen verwendete sie nur noch zur Jagd, und als ihr die Pfeile ausgingen, tauschte sie auf dem Marktplatz Münzen gegen Wild. Statt die Abend mit steifen, gefrorenen Fingern im Wald zu verbringen, kehrte sie an Viggos Seite zurück. Sie waren Beide erleichtert gewesen, dass sie noch lebten.

Im Nachhinein waren diese Gefühle nichts als Täuschung und Trug gewesen. Viggos anfängliche Hoffnung, dass sich seine Schwierigkeiten beim Gehen wieder legen würden, zerfielen. Der Gehstock aus hellem Holz fand seinen Weg in ihr Schlafzimmer, und aus hoffnungsvollen Nächten wurden Albträume und endlose Tage.

Schmerzensschreie kehrten in die neue Hütte ein.

Über all dem lag die Illusion von Frieden. Nach all den Kämpfen, die sie ausgetragen hatten, hatte Lova wirklich geglaubt, dass alles gut werden würde. Natürlich würden sie Schwierigkeiten haben und Viggos Verletzungen würden Zeit zur Heilung in Anspruch nehmen, aber am Ende würden die Götter doch sicher gnädig sein. Es stellte sich heraus, dass dies ein Irrtum war. Nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass ihre Welt aus den Fugen geriet.

Jedes gemeinsame Frühstück schmeckte fad, auch wenn es köstlich und süß duftete.

Das Feuer im Kamin reichte nicht, um die Kälte in Lovas Inneren zu vertreiben.

Wenn sie Viggo küsste, lag der Geschmack von Eisen auf seinen Lippen. Dabei hatte sie für ein ganzes Leben genug Blut gesehen.

Und keines dieser Dinge konnte überspielen, dass sie sich selbst nicht entkommen konnte.

Entsann Lova sich an den Tag zurück, an dem die Panik sie zum ersten Mal überwältigt hatte, war bereits die bloße Erinnerung schmerzhaft. Sie hatte den Skrill nur angesehen, ein kurzer Blick in seine Augen, und aus dem starren Gelb wurde Runnas Grün. Hätte Finn sie nicht aufgefangen und in seine Arme gezogen, wäre Lova am Hafen in Tränen ausgebrochen. Sie wusste noch, wie sie sich mit bebenden Schultern an Finn festgeklammert hatte, während er sie in den Wald trug. Erst, als sie Moos, Laub und Gras unter ihren Fingern spüren konnte, kam sie wieder zur Ruhe.

Forget-me-notsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt