Kapitel 61 (1) - Louvisa

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In ihren Träumen starrte Lova in einen Vulkan. Das Leuchten der Magma im Inneren verlieh ihrer Haut einen warmen, orangenen Schimmer – das konnte sie sehen, weil sie sich an das heiße Vulkangestein klammerte. Ein stechender Schmerz jagte durch ihre Handflächen, doch sie ignorierte ihn. Denn im Gegensatz zu einem normalen Albtraum wusste Lova, dass sie nicht wach war und der Schmerz nur ihrer Fantasie entstammte. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Vulkan gesehen, geschweige denn aus einer solchen Nähe.

Ein Händler hatte ihr einmal davon erzählt, wie er selbst einmal an einem Vulkan gestanden und hinein gestarrt hatte. Seine Erzählungen mussten sehr lebensecht gewesen sein, denn wüsste Lova es nicht besser, würde sie behaupten, dieser Vulkan entstamme ihrer Erinnerung.

Auch ihr Herz schien fest davon überzeugt zu sein, dass dieses Bild real war. Obwohl Lova eigentlich wusste, dass sie träumte, schlug ihr Herz rasend schnell gegen ihre Brust. Stünde sie aufrecht, anstatt am Rand des Kraters zu kauern, würden ihre Füße kaum stillhalten können, weil sie von einer unerklärlichen Rastlosigkeit befallen war. Ihre Augen suchten den Grund des Vulkans ab, als erwarteten sie, etwas anderes zu finden als Magma und dunkelgraues Gestein.

„Das ist doch albern", sagte Lova, doch ihr Körper und ihr Verstand steckten an zwei verschiedenen Orten fest. Die Brücke, die dazwischen bestanden hatte, war in einem unerklärlichen Nebel verschwunden. Einzig ihre Sinne funktionierten und schickten ihr fleißig Botschaften, als wäre dieser Vulkan mehr als ein Traumgespenst.

„Eine Einbildung", murmelte Lova, während ihr Schweißperlen über die Stirn liefen und ihr Herzschlag noch schneller wurde. Sie träumte, aber ihr Körper führte sich auf, als befände sie sich in einer Gefahrensituation. „Das ist nicht echt."

Sie wollte sich aufraffen, wollte aufstehen und diesem Ort den Rücken zukehren oder wenigstens aufwachen, damit sie diesen Albtraum vergessen konnte, aber Lova war zu einer einfachen Zuschauerin in ihrem eigenen Kopf geworden. Wie eine Erinnerung, die sich erneut abspielte und die sie nicht ändern konnte.

Ihre Kehle war rau, als hätte sie geschrien und ihre Augen suchten noch immer den Grund des Vulkans ab, als würde sich dort etwas verstecken. Aber das konnte nicht sein, weil die heiße Magma jedes Leben augenblicklich vernichten würde.

Es sei denn... Lovas Blick blieb an einer kleinen Insel hängen, ein winziger Brocken Vulkangestein, der einem Menschen Platz bieten könnte. Ihr Herz blieb stehen, nur um dann doppelt so schnell weiterzurasen.

Lova fühlte sich, als müsste sie eine Erkenntnis haben, als müsste sie... Sie schrie auf, als ihr Körper sich in Bewegung setzte, obwohl ihr Verstand sich nach Kräften widersetzte. Doch in diesem Albtraum, der sich so echt anfühlte, gehörten ihre Handlungen nicht zu ihr.

Sie schrie noch immer, als sie in einem Wirbel aus Rot und Orange in den Vulkan stürzte, nachdem sie selbst hineingesprungen war. Doch das Rasen ihres Herzens hatte nichts mit Angst um ihr eigenes Leben zu tun, sondern mit... der Angst um einen anderen Menschen, um freudige, kribbelnde Erwartung auf ein Wiedersehen, als ob es da jemanden am Grund des Vulkans gäbe, der nur auf sie wartete...

~

Als Lova aufwachte, war die Hitze und das Licht des Vulkans verschwunden. Nur das Rot war geblieben, in Form von frischem Blut, das aus den Wunden in ihrer Hand floss und bereits eine kleine Pfütze auf dem Höhlenboden hinterlassen hatte. Auch ihr Herz schlug noch immer viel zu schnell, von einer Aufregung und Angst, die nicht zu Lova gehörten. Doch der undurchsichtige Schleier, der sich zwischen ihrem Verstand und ihrem Körper ausgebreitet hatte, hatte sich wieder gelichtet und überließ ihr die Kontrolle.

Nur ein Traum, erinnerte Lova sich selbst, während sie sich mit steifen Gliedern aufrichtete. Ihr Kopf dröhnte und schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen, die sicher nichts mit ihrem seltsamen Albtraum zu tun hatten. Langsam klang die Müdigkeit ab, und die Realität brach wieder über sie herein.

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