Kapitel 23

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 Das Schiff wiegte sich in den Wellen, die Holzdielen knarzten und ein raues Seil rieb Lovas Handgelenke auf. Ihr Kopf dröhnte, ein metallischer Geschmack lag auf ihrer Zunge. Die Situation kam ihr auf absurde Weise bekannt vor; Fesseln hielten ihre Gliedmaßen still, ihre Kleidung war ohne die dutzenden Dolche erstaunlich leicht. Das Klirren der Schneiden gegeneinander fehlte und wurde stattdessen von Wellenrauschen und tiefen Atemzügen abgelöst.

Lova stockte, hielt die Luft an, doch das Atmen blieb.

Sie war nicht allein.

Sie versuchte, zu sprechen, getrocknetes Blut löste sich aus ihren Mundwinkeln und ihr Atem wurde von einer festgezurrten Stoffschicht zurückgeworfen. Jemand hatte sie geknebelt, ihrer Stimme beraubt und mit einem Fremden allein gelassen.

Mit einem Fremden.

Lova hatte gelernt, die Gegenwart anderer Menschen zu verabscheuen. Damit meinte sie nicht Finn, Adaja, Dunja oder Nehemia; und selbstverständlich auch nicht Viggo, doch der Gedanke an einen Unbekannten in ihrer unmittelbaren Nähe ließ Übelkeit in ihr hochsteigen.

Und warum in Hels Namen konnte sie nichts als Blut schmecken?

Ihre Erinnerungen ließen sie im Stich – da waren nichts als Schmerzen.

Der Schneider, der sie packte und dessen fester Griff ihr den Atem raubte.

Eine Schneide an ihrer Kehle, kaltes Metall, dass sich tief in ihre Haut grub.

Blut, welches aus einer Schnittwunde lief und ihren Hemdkragen tränkte.

Rot, rot, rot auf Weiß.

Der Knebel erstickte einen Schrei, als Lova sich aufbäumte und gegen die Fesseln ankämpfte.

Sie hasste das Gefühl der rauen Seile an ihren Handgelenken, das Reiben von Fasern über ihrer aufgeschürften Haut. Neue Wunden mischten sich zu alten Narben, wie neue Albträume zu ihren Altbekannten kamen.

Sie musste überleben.

Das war alles, was zählte.

Überleben – sich befreien.

Überleben – entkommen.

Überleben – kämpfen?

Lova holte tief Luft, schmeckte ihren eigenen, erhitzten Atem in den Leinen des Knebels. Sie schmeckte nach Blut und Salz und ein wenig nach Viggo, weil es nicht lange her war, dass eine sorglose Version ihrer selbst ihn geküsst hatte.

Sie hielt sich daran fest, während sie jeden Muskeln in ihrem Körper anspannte, ihre Glieder kreisen ließ und nach einem Schwachpunkt in den Fesseln suchte.

Das konnte nicht so schwer sein, sie hatte es schon einmal getan, in einem Schiff ganz ähnlich diesem. Sie konnte es wieder tun; sie musste es wieder tun, wenn sie überleben wollte.

Ihre Stiefel. Beim ersten Mal hatte Lova sich zuerst ihrer Stiefel entledigt.

Die Fesseln um ihre Beine waren locker genug, dass sie ihre Schuhspitze gegen die Sohle pressen und das weiche Leder über ihre Ferse schieben konnte. Der Rest ging wie von selbst und auf ihrer linken Seite verlief die Prozedur dann bereits leichter.

Ohne ihre Schuhe war es leichter, die Fesseln um ihre Beine zu lockern. Ihre Hose rutschte über ihre Unterschenkel, da die Stiefel sie nicht mehr an Ort und Stelle hielten. Die nordische Kälte, durch die Schiffswände lediglich gedämpft, drang unerwartet heftig an ihre nackte Haut.

Eine Gänsehaut zog sich über Lovas Beine und sie erschauderte, ehe sie sich zur Ordnung rief und sich wieder an ihren Fesseln zu schaffen machte. Wenn sie sich gegen die Seile stemmte und anschließend locker ließ, gaben sie jedes Mal ein wenig nach.

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