Kapitel 50

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Lova hatte ihm bis ins kleinste Detail erzählt, wie sie den Skrill gezähmt und Runnas Vertrauen gewonnen hatte. Viggo war dabei gewesen, als sie einen Sturmschneid zu ihrem Drachen gemacht und einen Nadder so schwer verwundet hatte, dass er die Flucht ergriff. Sie hatte ihm berichtet, wie selbst ein kleines Rudel Qualmdrachen an ihrer Seite kämpfte.

Und von all den Geschichten, die Viggo von und über Hicks gehört hatte, wollte er gar nicht anfangen. In der Theorie war er ganz ausgezeichnet auf dieses Abenteuer vorbereitet – sein Wissen, kombiniert mit Erfahrungsberichten und Adrenalin, das durch seine Adern rauschte, versprach gute Chancen auf einen Sieg. Zumindest in der Theorie.

Viggo blendete die Blicke der Zuschauer auf der Tribüne nach besten Kräften aus, während er die von Ivar erwähnten Waffen studierte. Das Regal war beängstigend leer; lederne Riemen verrieten, wo üblicherweise Schwerter, Äxte und Morgensterne hingen. Sogar ein leerer Köcher hing an einem Haken, doch der dazugehörige Bogen fehlte. Einzig ein Netz und ein Dolch mit gezackter Spitze lagen ausgebreitet dar.

„Wie hilfreich", murmelte Viggo und betastete prüfend die Leinen, aus denen das Netz gefertigt war. Unter seinen Fingern waren sie spröde und Fasern lösten sich ab, als er nur daran zog. Einen ganzen Drachen mit einem Gewicht von dutzenden, wenn nicht hunderten Kilogramm würde es sicher nicht halten, selbst wenn Viggo das Netz über ihn werfen könnte.

Er ließ das Netz liegen und begutachtete stattdessen den Dolch, während in seinem Hinterkopf die Zeit verrann wie Sand. Von den zwei Minuten, die Illian ihm zugestanden hatte, war die erste bereits vergangen. Sein Tod oder sein Sieg – eine dieser beiden Möglichkeiten kam immer näher und streckte die Hände nach ihm aus. Hel oder Tyr, einer der beiden Götter würden ihn kriegen.

Viggo betete nie, doch in diesem Moment hoffte er, dass ihm der Gott des Sieges gnädig gestimmt wäre. Wenn er sich bereits in dieser Arena nur auf sich selbst verlassen konnte, so würde hoffentlich wenigstens irgendeine übernatürliche Macht dafür sorgen, dass er keinen glanzlosen Tod starb.

Die Klinge des Dolches war von getrocknetem Blut überzogen, dessen tiefrote Farbe den Ursprung verriet. Ein Drache war es nicht, dessen Haut durchbohrt worden war. In dem von Leder überzogenen Griff zeichneten sich sichelförmige Abdrücke ab, als hätte der letzte Träger sich in Todesangst an diese Waffe geklammert. „Erbärmlich", sagte Viggo leise, ehe er selbst den Dolch ergriff. Das Gewicht in seinen Händen war beunruhigend leicht und trug kaum dazu bei, seine Nerven zu beruhigen. Doch mehr hatte er nicht, um sich zu verteidigen.

„Du bist der talentierteste Drachenjäger, den dein Stamm jemals hervorgebracht hat", murmelte Viggo in sich hinein, während das Knarren eines sich öffnenden Tores den Ablauf seiner Zeit verriet. Genau hinter ihm schoben sich die Flügeltüren auf und entließen den Gestank nach geronnenem Blut, Fisch und Verwesung in die Arena. Unter dem Knurren des Drachen bebte der Steinboden, lange Krallen schabten über den Stein und bohrten tiefe Furchen hinein.

„Du wirst nicht verlieren", sagte Viggo zu sich selbst, machte die Worte zu seinem Mantra. „Du kannst nicht versagen und das wirst du auch nicht. Das wäre unter deinem Niveau."

Mit dieser ermutigenden Rede packte Viggo den Dolch ein wenig fester und drehte sich zu dem Drachen herum, der ihn erwartete.

~

Hel oder Tyr, Tod oder Sieg; vielleicht hätte er vorher eine Münze werfen sollen.

Wobei, das wäre nicht fair gewesen. Die Chancen bei einem Münzwurf waren ausgeglichen, jedes Ergebnis hatte dieselbe Wahrscheinlichkeit. Viggos Überlebenschancen in angesichts des Drachen standen weitaus schlechter.

Vor ihm ragte ein dunkelblaues Flügelpaar empor, das an zwei gebogenen Krallen endeten. Seile verbanden die schuppigen Schwingen miteinander, sodass sie in einem unnatürlichen Winkel nach oben gerichtet waren. Durch die rauen Fasern des Seils waren die Flügel des Drachen mit Schrammen übersät, die er sich wieder aufscheuerte bei dem Versuch, die Fesseln loszuwerden.

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