Kapitel 42

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Sie hatten ein zweites Mal auf der winzigen Insel Unterschlupf gefunden. Die altbekannten Höhlenwände waren der einzige Schutz, den sie vor dem tobenden Unwetter hatten, und selbst der Skrill suchte sich einen Platz zwischen dem Gestein. Der Wind trieb den Regen hinein, kleine Pfützen bedeckten die erste Hälfte der Höhle und schwappten gelegentlich bis zu dem prasselnden Lagerfeuer. Zischend wurden die Tropfen zu Wasserdampf, der sich an der Steindecke sammelte und wenig später wieder an den Wänden hinunterfloss.

Nichts würde wirklich trocknen, solange der Sturm tobte, doch Lova hatte sich dennoch ihres Oberteils entledigt und ihre Rüstung in den Seesack gestopft. Sie zitterte in ihrem hauchdünnen Unterhemd, aber die nasse, an ihrem Körper klebende Kleidung war keine Alternative. Stattdessen rutschte sie so dicht wie möglich an das Feuer heran und wärmte ihre Hände über den Flammen. Noch immer brannten tausende Fragen auf ihrer Zunge, doch während ihres Fluges hatte sie keine Antworten erhalten – der Wind hatte jedes gesprochene Wort verschluckt. Nun war Lova nicht nur verwirrt, sondern auch ein wenig angeschlagen und durchgefroren.

Die Umstände waren so typisch, dass sie mit klappernden Zähnen ein spöttisches Schnauben unterdrückte. „Großartig", knurrte sie. „Wirklich großartig."

„Könntest du mir zur Hand gehen, Liebste?", fragte Viggo von der anderen Seite des Lagerfeuers. „Nur für einen Augenblick." Mitleid lag in seiner Stimme, klebrig und süß. Jenen Tonfall hatte Lova noch nie von ihm gehört, und sie hasste jede Sekunde davon. Dieses Mitleid, gemischt mit Schuldbewusstsein, nahm Viggos Präsenz so sehr ein, dass er selbst seine Abneigung gegen die Bitte um Hilfe ablegen konnte. Und sei es nur, um Lova den Anschein von Kontrolle zu vermitteln.

„Klar." Mehr brachte Lova nicht hervor, als sie sich ächzend erhob. Unter ihren nackten Füßen spürte sie die Kühle des Steinbodens noch deutlicher, Wellen der Kälte jagten durch ihren Körper.

Sie zitterte noch immer, als sie neben Viggo trat und ihn erwartungsvoll ansah.

Der Regen hatte den Großteil des Bluts von seinem Gesicht gewaschen, bis von der Schramme auf seiner Nase nur noch ein feiner Strich übrig geblieben war. Der Schnitt in seiner Augenbraue von einer Blutkruste überzogen, die umgebende Haut von einem ungesundem Rot. Doch das schlimmste war die Wunde auf seinem Wangenknochen; aus der aufgeplatzten Mitte quoll dunkelrotes Blut und ein schillernder Kreis aus violetten und braunen Flecken bildete den Rand.

„Ausgerechnet die gesunde Hälfte." Lova wagte den schwachen Versuch eines Scherzes, weil sie dann all die Fragen herunterschlucken konnte, auf die sie keine Antwort wollte. „Du brauchst keine passenden Narben mehr."

Viggo warf ihr ein Lächeln zu, das trotz seiner Schauspielkünste unglaublich falsch aussah. Bei der Bewegung seiner Mundwinkel mischte sich Schmerz in diesen seltsamen Ausdruck in seinen Augen. „Ich denke das nächste Mal daran", gab er zurück und legte die Hände auf ihre mit einer Gänsehaut überzogenen Arme. Die Wärme seiner Handflächen drang durch ihre Haut und sorgte wenigstens dafür, dass das Zähneklappern aufhörte. „Du bist völlig durchgefroren, Liebste."

Obwohl Lova sich ihm – und seiner Körperwärme – gern entgegen gelehnt hätte, blieb sie stehen, als wäre sie aus Stein. Seine Fürsorge traf einen wunden Punkt in ihr, der zwei widersprüchliche Emotionen auslöste; einerseits wollte sie sich in Viggos Arme fallen lassen und warten, bis die Welt ihr ein wenig heller erschien, andererseits wollte sie ihn von sich stoßen und für den Gedanken verfluchen, sie könnte seine Hilfe brauchen.

Natürlich tat sie nichts von beidem. Sie verharrte lediglich reglos, wissend, dass sie seinen Halt brauchen würde, sobald sie die Antwort auf eine einzige ihrer Fragen erhielt. Dennoch erschienen Lova diese Fragen wie eine Leiter, an der sie sich entlanghangeln konnte – möglichst schonend, obwohl sie doch einen Abgrund hinabführte. Also begann sie mit der leichtesten.

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