Es war mehrere Monate her, seit Lova zuletzt in einen Spiegel geschaut hatte. Bei den Drachenjägern hatte es schlicht keine Möglichkeiten gegeben und während ihres Daseins als heimatlose Reisende ebenso wenig. Als sie bei den Beschützern des Flügels die Möglichkeit gehabt hatte, war sie vor ihrem eigenen Anblick zurückgeschreckt, weil die Spiegelung ihr alles gezeigt hatte, was sie fürchtete – Zweifel, Angst, Schwäche.
Doch als Lova aus dem abgetrennten Umkleidebereich eines Kleidergeschäftes trat und in den Spiegel sah, den Grobian ihr mit einem breiten Grinsen in die Hand drückte, konnte sie den Blick nicht abwenden.
Das Leben bei den Beschützern hatte ihr gutgetan, obwohl es oft nicht einfach gewesen war. Regelmäßige Mahlzeiten und der fehlende Stress, sich ständig um ihr Leben sorgen zu müssen, hatten ihrer Haut eine gesündere Farbe verliehen. Die krankhafte Blässe fehlte, genauso wie die dunklen Ringe unter ihren Augen. Aus ihren spitzen, hervortretenden Wangenknochen waren weichere Rundungen geworden, die sich deutlich besser in ihre Züge einfügten. Auch die neue Haarlänge passte zu ihr - die längsten Strähnen kräuselten sich hinter Lovas Ohren, die kürzeren umschmeichelten ihr Gesicht. Die dunklen Locken hatten einen satten, gesunden Glanz, weil Adaja all die verfilzten Reste abgeschnitten hatte; und auf ihren Wangen lag eine gesunde Farbe.
Das Lächeln stand Lova endlich wieder, statt wie eine verzerrte Maske an ihr festzukleben.
Auch ihre verschlissene Kleidung war sie losgeworden. Das dünne, blütenweiße Hemd und die Hose mit dem zerfetzten Saum hatten einer Rüstung Platz gemacht, die sie auch tatsächlich schützen würde. Bisher waren es lediglich Platten aus gegerbtem Leder, die sich unter mehreren Schichten dunkelblauen Stoffes verbargen, doch bald würde Lova sie mit Drachenschuppen verstärken. Ein Korsett mit mehreren Riemen – ebenfalls aus Leder – schützte die Organe unter ihrer weichen Bauchdecke und bot mit mehreren versteckten Waffenscheiden oberhalb ihrer Rippen Platz für den ein oder anderen Dolch.
An ihrem neuen, robusteren Gürtel befestigte Lova Viggos Schwert und strich mit den Fingerspitzen über die glänzenden Rubine. Sie schickte einen stummen Gedanken über das Meer hinaus zu der Fischerinsel, auf der sie ihn zurückgelassen hatte, als sie von der schüchternen Verkäuferin einen Seesack entgegennahm. Die Seile, an denen der überfüllte Beutel befestigt war, schnitten sich in ihren Rücken und ächzten unter dem Gewicht einer weiteren Rüstung. Sie hatte nicht nur Viggos zukünftige Kleidung und neue Vorräte, sondern auch zwei mit Schaffell gefütterte Umhänge dabei, die sie vor den schlimmsten Winterstürmen schützen sollten. Lovas letzte Goldmünzen wanderten in den Besitz der jungen Wikingerin und der Spiegel verschwand wieder in einer Schublade.
„Vielen Dank", sagte Lova dennoch, nickte der Verkäuferin zum Abschied zu und wandte sich mit leerem Geldbeutel ab. Bald würde sie ohnehin mehr Zeit auf einem Drachenrücken als auf festem Boden verbringen – was gab es also noch, was Gold ihr bringen könnte?
Eine kühle Brise streifte ihr Gesicht, als Lova aus dem Geschäft und zurück ins Freie trat. Sie spürte, wie sich ein befreites Lächeln auf ihrem Gesicht breitmachte, als sie sich zu Grobian wandte und ihn ganz offen angrinste. Ihre Schritte waren so beschwingt wie seit Monaten oder gar Jahren nicht mehr. „Danke, dass du mich begleitet hast."
Grobian erwiderte ihr Grinsen und kratzte sich mit seiner Hakenhand das Kinn. „Kein Grund, mir zu danken", gab er mit einem kurzen Wedeln seiner intakten Hand zurück, während er neugierig auf ihren Seesack schielte. „Aber der, für den du die Rüstung gekauft hast, wird sich vorsehen müssen." Grobian lachte und klopfte Lova wohlwollend auf die Schulter. „Entweder, du bringst diesen Glückspilz her oder du kommst bald zurück – sonst behält Berk dich noch hier."
„Das wird nicht möglich sein", sagte Lova, obwohl auch sie ein wenig lachen musste. Auf Berk zu bleiben, diese Vorstellung widerstrebte ihr nicht mehr so sehr wie zu Beginn ihrer Reise. Die Insel war von malerischer Schönheit, voller Drachen und lachender Menschen und Frieden. Hinter den zahlreichen Hütten erstreckten sich volle Weiden, grasgrüne Wiesen und Berge mit schneebedeckten Gipfeln. Wäre da nicht dieses Sehnen in ihrem Herzen – dieses Sehnen danach, jede Ecke des Inselreiches zu sehen und nicht bloß diese eine Insel – dann wäre Lova vielleicht sogar versucht zu bleiben. Und wenn Viggo nicht wäre.
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Forget-me-nots
FanfictionEinige Monate sind vergangen, seit Viggo und Lova auf der Insel der Beschützer Zuflucht gefunden haben. Doch nicht nur das Misstrauen von Königin Mala zerren an den Nerven der Beiden, sondern auch alte Feinde und Erinnerungen, die sie lieber begrabe...