Die Schuppen des Sturmschneids waren weich wie gegerbtes Leder und unter seinem Kinn beinahe so verletzlich wie die menschliche Haut. Die zwei breiten Hörner über seinen Augen allerdings ähnelten in ihrer Struktur blanken Knochen und verursachten bei jeder Berührung einen hohlen Klang. Sonderlich spitz waren sie auch nicht, dafür aber hart genug, um einem Menschen gefährlich zu werden. Wenn das Drachenweibchen nicht aufpasste, würde sie Lova die Nase brechen.
Lova musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um dem Sturmschneid die Stirn zu tätscheln. Obwohl der Drache den Kopf gesenkt hatte und gierig einen Fisch nach dem anderen aus Lovas Korb verschlang, überragte er sie noch immer.
„Langsam, Große", ermahnte sie den Drachen, „Kauen nicht vergessen." Der Sturmschneid schmatzte nur geräuschvoll und verdrehte in Lovas Richtung die haselnussbraunen Augen.
„Man könnte meinen, sie ließen dich hier verhungern", sagte Lova, „Dabei weiß ich sehr genau, dass du vorhin ein ganzes Reh verputzt hast."
Der Sturmschneid zog den Kopf aus dem Korb und leckte sich pikiert eine blutverschmierte Klaue. Ihr Blick sagte deutlich: „Das würde ich doch niemals tun!", doch das rotbraune Fell zwischen ihren Zähnen sprach eine andere Sprache.
„Richtig, du bist die Unschuld in Drachengestalt."
Lova stellte die zerfledderten Überreste des Korbs neben sich ab und besah sich die Flügel des Sturmschneids, während dieser noch damit beschäftigt war, sich zu putzen.
Narbengewebe bedeckte das linke Flügelpaar, die Schwingen waren eingerissen und die hakenförmige Kralle am oberen Ende verblieb ohne Spitze. Sie musste auf halber Länge abgebrochen sein. Der Drache hatte Verletzungen erlitten, die ihn für eine lange Zeit flugunfähig gemacht hatten, doch dank der intensiven Pflege der Beschützer hatte er sich bald erholt. In der Wildnis wäre er jedoch längst Futter für die nächstgrößere Drachengattung gewesen.
„Wo haben die Beschützer dich aufgelesen?", murmelte Lova, mehr zu sich selbst als zu dem Sturmschneid, „Du bist so zutraulich, ich kann mir kaum vorstellen, dass deine Verletzungen von Menschenhand stammen." Natürlich gab der Drache keine Antwort. Sie leckte lieber den Fischgeruch von Lovas Händen.
„Vorsicht, der Speichel eines Sturmschneids ist hochexplosiv."
Lova fuhr herum und der Drache knurrte drohend, doch mit dem Erkennen lockerte sich die angespannte Haltung der Beiden. (Das sollte heißen: Lova erkannte den Neuankömmling, und der Sturmschneid imitierte ihre Bewegungen.)
„Viggo." Sie lächelte und winkte ihn heran. „Wird es zur Gewohnheit, dass du mich beobachtest?"
Er verharrte auf der Stelle, den Blick misstrauisch auf den Sturmschneid gerichtet. „Ich hatte eigentlich nichts dergleichen vor", erklärte Viggo, „Aber du bist schon wieder davongelaufen."
Lovas Miene verhärtete sich und augenblicklich trat der Sturmschneid dichter an sie heran. Ein Flügel breitete sich über ihrem Kopf aus wie ein ledriges Zeltdach, die gebogene Klaue thronte als stumme Mahnung an der Spitze. „Ich bin nicht davongelaufen", sagte sie, „Ich bin gegangen und habe Finn gesagt, wohin ich gehe und wann ich zurück sein werde."
„Das ist es nicht, was ich meine." Viggo rang mit sich, dann trat er schließlich doch näher zu ihr. Die Nüstern des gewaltigen Drachen bebten, als sie den Kopf neigte und seinen Geruch einfing. Lova sah Viggo an, dass er gegen den Drang ankämpfte, schleunigst die Flucht zu ergreifen.
„Was meinst du dann?", fragte sie und legte dem Sturmschneid eine Hand auf die Flanke, hielt sie zurück und wies sie gleichzeitig sanft in die Schranken, „Wir hatten uns abgemacht, dass ich einen weiteren Drachen zähmen würde, und hier bin ich."
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Forget-me-nots
FanfictionEinige Monate sind vergangen, seit Viggo und Lova auf der Insel der Beschützer Zuflucht gefunden haben. Doch nicht nur das Misstrauen von Königin Mala zerren an den Nerven der Beiden, sondern auch alte Feinde und Erinnerungen, die sie lieber begrabe...