Kapitel 48

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Wasser floss an der Höhlenwand herab und hinterließ einen feuchten Film auf dem Gestein. Die Luft war abgestanden und der Gestank nach Verwesung hing in jeder Nische. Selbst an den rostigen Gittern der Zelle hatte sich eine übelkeitserregende Schleimschicht abgesetzt, die sich grünlich von dem grauen Metall abhob. Viggo hoffte, dass es lediglich Algen waren, doch er könnte es nicht beschwören. Als wäre das noch nicht abstoßend genug, war das „Trinkwasser", welches ihnen einmal täglich serviert wurde, brackig und gelb, sodass sich der ehemalige Anführer der Drachenjäger mit dem Regen begnügen musste, der durch das sichelförmige Loch in der Höhlendecke tropfte und auch nur eine geringfügige Verbesserung darstellte.

Aber das war nicht seine größte Sorge. Er würde den Rest seines Lebens in dieser Zelle verbringen, in diesem Dreck leben und Regenwasser trinken, als wäre er ein verdammtes Tier, wenn es nur Lova von diesem Ort befreien würde. Es war nur wenige Stunden her, seit man sie in der Höhle unter den Klippen eingesperrt hatte, doch ihr Zustand verschlechterte sich mit jeder Minute. Als der Pfeil Lova getroffen hatte, war sie zusammengebrochen, die Haut so blass wie bei einer Leiche. Sie hatte geschrien, als würde man sie bei lebendigem Leibe verbrennen, bis sie vor Schmerzen ohnmächtig wurde. Erst in der Zelle war sie wieder zu Bewusstsein gekommen, doch sie brachte nur wirres Gerede hervor, bis sie unter Krämpfen schrie und würgte, während blutiger Speichel ihre Mundwinkel hinunterrann. Viggo hatte kaum reagieren können, als sie sich mit ihren eigenen Händen das Gesicht zerkratzte und schließlich wieder ohnmächtig wurde. Nach diesem Anfall hatte er sich neben sie gesetzt und ihre Handgelenke festgehalten, in der absurden Hoffnung, sie beim nächsten Mal abhalten zu können, ehe sie sich selbst verletzte, doch ihre Anfälle schienen Lova unmenschliche Kräfte zu verleihen.

Bei ihrem zweiten Anfall hatte Lova um sich getreten und gegen seinen festen Griff angekämpft, bis ihre Arme voller blauer Flecke waren und er sie freigeben musste, ehe sie sich selbst die Arme brach. Während sie sich kreischend gegen unsichtbare Feinde wehrte, waren ihre grauen Augen weit aufgerissen und nach hinten verdreht, bis man nur noch das Weiße sah. Bis Lova wieder das Bewusstsein verlor, weinte und schrie sie, verfluchte die Gestalten, die nur sie sehen konnte, und wand sich hin und her, bis ihre Muskeln verkrampften. So blieb sie schließlich liegen, den Kopf in den Nacken gelegt und die Hände zu Fäusten geballt. Ihr entblößter Hals war angeschwollen, sodass sie um jeden Atemzug kämpfen musste, und das flache Heben und Senken ihres Oberkörpers kam ruckartig, das Herz in ihrer Brust tat nur langsam seine Arbeit.

Viggo kannte ihre Symptome, auch wenn er noch nie aus unmittelbarer Nähe miterlebt hatte, wie ein Mensch durch das Gift einer Flügelschlange sein Leben aushauchte. Doch er wusste gut genug, dass er keine Chance hatte, sie zu retten. Es gab ein Gegenmittel, es gab zu jedem Gift eines, doch er hatte keine Möglichkeiten, es ihr zu beschaffen. Lova würde ihren Verstand niemals wiedererlangen, wenn Viggo nicht auf wundersame Weise Zugriff auf allerhand Kräuter erhielt. Ihre Anfälle würden von Stunde zu Stunde heftiger werden, ihre Organe würden eines nach dem anderen versagen und ihr Hals würde weiter zuschwellen, bis der klägliche Rest ihres Lebens aus einem Wettkampf bestand; Was würde sie zuerst umbringen? Würde sie ersticken oder würde ihr Herz nicht mehr schlagen, ehe es soweit kommen konnte?

Viggos Hände zitterten, als er Lova das Haar aus der Stirn strich. Dunkle Ringe warfen tiefe Schatten unter ihre Augen, und ihre leichenblasse Haut schimmerte gräulich im kargen Licht. Wäre da nicht die fiebrige Hitze ihres Körpers, so wäre sie nicht von einer Toten zu unterscheiden gewesen. Ihr Anblick reichte, und Schuld bohrte sich in sein Herz. Viggo hatte nicht vergessen, wie er hilflos am Boden gelegen hatte, während Lova den Pfeil abgefangen hatte, der für ihn bestimmt gewesen war. Die Angreifer hatten seine blinde, linke Seite genutzt, um sich ihm anzunähern, doch Lova musste sie aus dem Augenwinkel bemerkt und keine Sekunde gezögert haben, als sie ihm die Beine wegtrat und sich schützend vor ihn stellte. Viggo erinnerte sich an ihre gestrafften Schultern, an die zu Fäusten geballten Hände, als sie den Pfeil erwartete – und ihre langsam bröckelnde Haltung, als das Gift ihren Körper in Besitz nahm.

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