Kapitel 56

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 „Der letzte Kampf", sagte Elin, während sie an einer Brotkruste nagte. Das Sonnenlicht, das durch die Löcher in der Höhlendecke fiel, brachte ihre Augen zum Leuchten und tauchte ihr Haar in die Farbe von flüssigem Gold, doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Optimismus lediglich aufgesetzt war. „Danach ist dieser Albtraum für dich vorbei."

Viggo schüttelte den Kopf – ihm fehlte die nötige Energie, um sich und Elin zu belügen. „Illian wird uns nicht gehen lassen, auch wenn ich gewinne", sagte er und brach einen Brotlaib in zwei Teile. Die beiden Drachenjäger, die die Nachtwache im Morgengrauen abgelöst hatten, hatten nicht nur das Brot, sondern auch zwei Holzbecher voller Wasser mitgebracht. Das Wasser roch nach Schlamm, war aber genießbar, und Viggo hatte die schimmlige Kruste des Brotes bereits abgetrennt und in den Höhlengang geworfen. Zuerst hatte er sich weigern wollen, es zu essen, doch sein knurrender Magen hatte ihn bald daran erinnert, wie dringend er diese Nahrung benötigte.

Dennoch hielt er die zweite Hälfte zurück, legte sie auf einen kleinen Felsvorsprung, damit sie nicht nass wurde. Vielleicht würde er wiederkommen, lebendig und siegreich, und Lova wäre noch am Leben, um ebenfalls etwas zu essen. Sie würde es brauchen, wenn sie sich erholen wollte.

Elins mitfühlender Blick wanderte zu der Brothälfte und ihre Miene wurde noch weicher. Viggo wusste nicht, woran es lag, doch seit diesem Morgen war das Flügelmädchen ihm gegenüber regelrecht... sanft. Er sah ihr an, dass sie sich mit bissigen Kommentaren zurückhielt und bemerkte auch, dass sie versuchte, ihn aufzumuntern.

„Aber deiner Louvisa wird es gutgehen." Da, Elin tat es schon wieder. Dieser Tonfall passte nicht zu ihr und Viggo glaubte beinahe, es läge daran, dass sie log. Sie gab ihr Bestes, optimistisch und positiv zu klingen, doch es misslang ihr kläglich. „Vielleicht finden wir ja zu Dritt einen Fluchtweg."

„Wenn ich überlebe." Viggo starrte missmutig auf die Flasche voller Baumharz, die neben ihm an der Höhlenwand lehnte. Die Wurzeln des Engelsfarns, an denen noch immer Erde klebte, lagen daneben und dienten Viggo als Erinnerung, was bereits hinter ihm lag. Und auch, was noch kommen würde. Denn eine Zutat fehlte noch.

„Das wirst du", sagte Elin, ihre Stimme getränkt von aufgesetztem Optimismus. „Immerhin hast du bereits zwei Kämpfe überlebt." Als Viggo daraufhin nicht antwortete, seufzte sie und lehnte sich gegen die Gitterstäbe. „Weißt du eigentlich, was für ein Gegengift du zusammenrühren musst?"

„Ja." Viggo hasste es, wie gereizt seine Stimme klang. „Ich bin der berüchtigtigste Drachenjäger des Inselreiches, schon vergessen?"

Elin hob abwehrend die Hände. „Ich wollte nur helfen", fauchte sie und ihr gebrochener Fuß schleifte über den Boden, als sie sich in die hintere Ecke ihrer Zelle zurückzog. Sie gab sich keine Mühe, leise zu sein, während sie bissige Kommentare in sich hinein murmelte und ihn keines weiteren Blickes würdigte.

Viggos Blick wanderte von den Zutaten des Gegengiftes zu Lova, doch obwohl sie in der vergangenen Nacht in der Lage gewesen war, mit ihm zu sprechen, wirkte sie nun so bleich wie eine Leiche. Eine weitere Erinnerung, diesmal daran, dass dieser Tag ihr letzter sein könnte.

Viggo schloss die Augen, doch Lovas schmerzverzerrtes Gesicht schwebte ihm dennoch vor Augen. Selbst wenn sie irgendwann wieder genesen sollte, würde er vermutlich noch jahrelang von diesem Anblick heimgesucht werden.

„Tut mir leid." Die drei kleinen Worte entkamen ihm, ehe sein Stolz einschreiten konnte. Doch Elin war die einzige Verbündete, die er hatte. Und da seine Chancen, den nächsten Morgen noch zu erleben, ohnehin denkbar gering waren, konnte er seinem Ego eine Pause gönnen. Wer außer Elin würde sich denn an ihn erinnern, wenn mit ihm auch Lova unterging?

Forget-me-notsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt