Kapitel 57

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Hatte Viggo wirklich geglaubt, der Skrill wäre ein unmöglicher Gegner?

Hatte er tatsächlich gedacht, der Klingenpeitschling könnte ihn töten?

Und hatte er all seine Gebete verschwendet, um sich nun in einer unmöglichen Situation wiederzufinden, in der ihm selbst die Götter nicht helfen könnten?

Die Antwort auf all diese Fragen war ein lautes, deutliches: „Ja."

Falls es noch irgendwo eine versteckte Hoffnung gegeben hatte, die zwischen Viggos düsteren Vorahnungen überlebt hatte, so war sie nun endgültig verschwunden. Denn seine Vorahnungen hatten sich bewahrheitet, sogar mehr als das, denn die Realität war grausamer als jede verschwommene Vorstellung seines übermüdeten Geistes.

Die Flügelschlange, die vor ihm aufragte, war von stattlicher Größe. Von ihren spitzen Reißzähnen bis zu ihrer Schwanzspitze war sie länger als fünf Mann, ihre ausgebreiteten Flügel verdunkelten das Sonnenlicht. Nach ihrer Gefangenschaft in einer der zahlreichen Zellen waren ihre Schuppen von braunem Matsch überzogen, doch an der sauberen Stelle unter ihrer Schnauze blitzten grellrote Schuppen hervor. Grellrote Schuppen, die von tödlichem Gift überzogen waren und verräterisch glänzten. Eine einzige Berührung, und Viggo wäre augenblicklich tot – ohne eine noch so winzige Chance auf Rettung. Unverdünnt entfaltete das Gift seine Wirkung binnen weniger Stunden.

Viggos Verstand arbeitete auf Hochtouren, doch er lieferte ihm die falschen Informationen; er konnte vor sich sehen, wie Lova diese Situation bewältigen würde, und die Einfachheit im Gegensatz seiner starren Hilflosigkeit war entwürdigend.

Louvisa würde ihm diesen Bogen aus den Händen reißen, einen Pfeil einspannen und mit ihrer unglaublichen Treffsicherheit auf den Hals des Drachen schießen. Während die Pfeilspitze die Kehle der Flügelschlange zerfetzte und sie qualvoll ersticken ließ, würde Lova den Bogen zurück über ihre Schulter hängen und ihm ein Lächeln schenken, bei dem ihre Augen leuchteten und Grübchen auf ihren Wangen erschienen.

Zu überleben, das würde ihr so lächerlich leicht fallen. Das hatte es immer; bis sie plötzlich diejenige gewesen war, die Rettung benötigte, und Viggo mit dieser Aufgabe allein gelassen hatte. Wären ihre Rollen vertauscht, – so, wie die Schussbahn des Pfeils es vorgesehen hätte – dann hätte Louvisa diese Farce bereits mit Leichtigkeit beendet. Sie übernahm das Kämpfen, er das Reden.

Doch diese Taktik funktionierte nicht mehr, wenn sie im Sterben lag und ihn mit dem Wissen zurückließ, dass es anders herum sein sollte.

Vermutlich hatte Illian ihm deswegen den Bogen überlassen, den er ohnehin nicht nutzen konnte – um Viggo zu zeigen, wie nutzlos er in dieser aussichtslosen Lage war.

Die Flügelschlange ließ ein Zischen hören, bei dem Gift aus ihrem Mund spritzte und in kleinen Pfützen den Boden befleckte. Mit gebleckten Zähnen taxierte sie ihn, die gelben Augen so starr und leblos, dass sie ihrem namensgebendem Reptil gerecht wurde.

Viggo hatte sich nie damit befasst, wie eine Flügelschlange ihre Opfer verspeiste, doch er hoffte, dass sie sich wenigstens dahingehend wie Drachen verhielten. Sein Interesse daran, bei lebendigem Leibe heruntergeschlungen zu werden, war denkbar gering. Andererseits... von diesem Giftzähnen durchbohrt zu werden, war sicher kein angenehmeres Schicksal.

Vielleicht sollte er sein letztes Gebet auf den Wunsch verschwenden, einen schmerzfreien Tod zu sterben – denn das war der einzige Weg, wie das hier enden würde. Viggo konnte nicht überleben.

Es war unmöglich.

„Ich wollte schon immer einmal sehen, wie das Gift wirkt!" Das aufgeregte Wispern des Sammlers hallte von den Steinwänden wieder, weil es das einzige Geräusch in der ganzen Arena war. Die Flügelschlange betrachtete noch immer ihr Opfer, und Illian auf der Tribüne tat dasselbe. „Was geht nach einem Biss wohl schneller? Das Verbluten oder das Vergiften?"

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