Kapitel 22

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 Ein angemessener Gegenspieler war nur solange ein interessanter Zeitvertreib, wie er ein Gleichberechtigter war. Sobald eine der beiden Seiten – sei es schwarz oder weiß – die Oberhand gewann, wurde aus einem Spiel ein Kampf um das eigene Leben.

Diese Tatsache war für Viggo keine gänzlich neue Erkenntnis. Neu war nur, dass man ihn hinters Licht geführt hatte. Er hatte geglaubt, was nicht wahr war – hatte geglaubt, dass man ihn für tot hielt und er sicher war. Und für diesen Irrtum würde Viggo bezahlen müssen.

Der Schneider – er war Viggo von Beginn an seltsam vorgekommen, doch er hatte es auf seine deutlichen Avancen gegenüber Louvisa geschoben – hielt ihnen siegessicher ein Pergament entgegen. Von dem verblichenen Papier starrte ihnen ein vernarbtes Gesicht entgegen. Tiefe Furchen zogen sich über die linke Hälfte, das erblindete Auge lag trüb und tief in den Höhlen. Sein schwarzes Gegenstück wirkte so herz- wie leblos, die Pupille kaum dunkler als die Iris. Das Lächeln auf den grob skizzierten Lippen wirkte eher wie eine Grimasse, keinerlei Emotionen lagen darin. Die eingefallenen Wangen ließen den Mann aussehen, als ob er eine hölzerne Maske trüge – auf abstrakte Weise menschlich, aber nicht menschlich genug. Der Teil des Gesichtes, der von den Brandnarben verschont geblieben war, war so bleich, dass es die Haut einer Leiche sein könnte. Starr, blutleer, kalt.

Neben ihm stieß Lova ein erschrockenes Keuchen aus.

„Ein Spiegel hätte mich schmeichelhafter dargestellt", sagte Viggo, doch seine Hände zuckten unwillkürlich hoch zu seiner linken Gesichtshälfte. Das Narbengewebe unter seinen Fingerspitzen war noch immer zerfurcht, die Krater zwischen den verblassten Wunden kaum abgeflacht. Es war zweifelsohne kein schöner Anblick, doch die Zeichnung war übertrieben. Sie schien eher dafür geeignet, kleinen Kindern am Lagerfeuer Angst einzujagen, als die Realität widerzuspiegeln. „Wer hat das gezeichnet?"

„Ich glaube nicht, dass das gerade wichtig ist." Lova schüttelte entgeistert den Kopf, die Hände bereits an ihrem Waffengürtel. „Wenn du dich erinnerst, es wurde ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt, und Kopfgeldjäger sind ihrerseits nicht für ihre Freundlichkeit bekannt."

„Das sind sie tatsächlich nicht." Der Schneider konnte es offenbar nicht lassen, sich einzumischen. Seine Miene war schrecklich selbstgefällig, doch das gehörte nicht zu den Dingen, die Viggo ihm nachtrug. Wäre es Viggo gelungen, den klügsten Mann des Inselreiches zu täuschen, wäre er auch selbstgefällig gewesen. „Meine Freunde werden über meinen guten Fang allerdings so erfreut sein, dass sie möglicherweise Gnade walten lassen." Der Blick des jungen Mannes wanderten zu Louvisa, deren finstere Miene zweifellos pure Mordlust verriet. „Wenn du ihnen die Frau anbietest, kannst du vielleicht sogar über dein Überleben verhandeln, Grimborn."

Viggo setzte zu einer Antwort an, doch Louvisa kam ihm zuvor. In ihrer Stimme schwang ein Donnergrollen mit, gleich einem Unwetter, welches sich gleich über dem Schneider entladen würde. Und Viggo war sich sicher, dass Lova keine Gnade zeigen würde.

„Ich bin kein Gegenstand, den du nach Belieben herumreichen kannst." Der Dielenboden knarzte unter Lovas Füßen, als sie einen Schritt auf den Schneider zutrat. Holzmehl rieselte von der Decke und die Dolche schlugen mit einem Klirren gegeneinander. „Deute an, es könnte anders sein und du endest wie die letzte Person, die mich besitzen wollte."

Ryker.

Viggo hatte seit Wochen nicht mehr an seinen Bruder gedacht, doch bei Lovas Rede kehrte die Erinnerung zurück. Es waren keine guten Erinnerungen – wer hatte schon gute Erinnerungen an den Bruder, der einen verraten und zum Sterben zurückgelassen hatte? Rykers Ende war denkbar glanzlos; ein sinkendes Schiff und ein Strudel, der ihn in das stinkende Maul eines Drachens zog. Das einzig Erzählenswerte oder gar ansatzweise Dramatische an seinem Tod waren die Brandwunden, die Lova ihm vorher zugeführt hatte. Der Preis für seine ungewollte Berührung, eine immerwährende Markierung für die letzte Entscheidung, die Ryker Grimborn getroffen hatte.

Forget-me-notsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt