Kapitel 31

25 3 0
                                    

Wie zähmte man einen Drachen?

Viggo hätte nie erwartet, dass er sich dieser Frage stellen müsste, doch sein Leben schien in den letzten Monaten ohnehin nur aus aneinandergereihten Überraschungen zu bestehen. Im letzten Herbst war er noch der Anführer der Drachenjäger gewesen, den letzten Winter hatte er auf den Nördlichen Marktinseln verbracht und im Frühling hatte er gemeinsam mit Krogan gezwungenermaßen die Drachenklippe eingenommen – doch erst am Anfang des Sommers war ihm bewusst geworden, dass er einen sinnlosen Kampf ausfocht.

Und diesen Herbst beschäftigte er bereits sich mit der drängenden Frage, warum er nicht weiterhin ohne ein Gewissen ausgekommen war. Sein Leben war deutlich einfacher gewesen, als er noch geglaubt hatte, dass er die ganze Welt beherrschen konnte und Gefühle nichts weiter als ein vermeidbares Hindernis gewesen waren.

„Weißt du, was du tust?", fragte die junge Fischerin neben ihm. Edda hatte Viggo eine Begleitung förmlich aufgezwungen, als er ihr seinen Plan verkündet hatte. Liv war bisher sehr still gewesen, ihre Wangen leuchteten rot in der Kälte. Im schwachen Licht der untergehenden Sonne traten die Schatten in ihrer gerunzelten Stirn überdeutlich hervor. Sie vertraute ihm nicht – oder traute ihm zumindest nicht zu, es mit den Drachen aufzunehmen.

„Bisher warten wir lediglich, meine Liebe. Darüber gibt es nicht viel zu wissen", gab Viggo zurück. „Ich war den Großteil meines Lebens ein Drachenjäger, und ein erfolgreicher noch dazu. Es besteht keinerlei Anlass, sich um meine Qualitäten zu sorgen."

„Ich will nicht gefressen werden", stellte Liv klar. „Dass du überleben wirst, ist klar. Ich habe genug Geschichten über dich gehört, um das zu wissen. Aber wer sagt mir, dass du mich nicht dafür opfern würdest?"

Viggo wollte lachen, doch wegen der beißenden Kälte endete es in einem amüsierten Schnauben. „Darüber machst du dir also Sorgen?", fragte er und verwarf ihre Bedenken mit einer beiläufigen Handbewegung. „Das ist nicht nötig. Meine Frau würde mich auf dem Fußboden schlafen lassen, wenn ich es täte. Und glaub mir; soviel ist mir nichts auf der Welt wert."

„Deine Frau?", wiederholte Liv fragend. Ihre Haltung wurde ein wenig aufgeschlossener, als linderte Lovas beiläufige Erwähnung ihr Misstrauen. „Die Brünette?"

„Ihr Name ist Louvisa." Viggo konnte seinen Atem sehen, als er bei der Erinnerung an sie die Luft ausstieß. Noch immer fühlte er ihre Lippen auf seinen und wenn er sich konzentrierte, lag ihr Duft selbst in der Kälte der Nacht. Bittersüße Wildblumen mischten sich unter den salzigen Geruch des Meeres und brachten ein Lächeln auf sein Gesicht. „Louvisa von Vernell."

Liv musterte ihn irritiert. „Von Vernell?", hakte sie nach. „Nicht Grimborn?"

Diesmal lachte Viggo wirklich und hob seine Hand, an der kein Ring prangte. „Wir sind nicht verheiratet", erklärte er. „Und auch nicht verlobt, falls das deine nächste Frage war."

„Und trotzdem nennst du sie deine Frau?" Zitternd in der eiskalten Herbstluft stopfte Liv ihren flachsblonden Zopf in den Kragen ihres Mantels. Ihre Fingerspitzen waren genauso rot wie ihre Wangen, als sie sie eilig zurück in ihre Taschen schob. „Das ist seltsam."

„Alles erscheint seltsam, bis wir die genaueren Umstände kennenlernen und verstehen, dass es für jede Handlung einen Grund gibt." Auch Viggo fror und zog den übergroßen Umhang, den Eddas Mann ihm widerwillig geliehen hatte, enger um sich. Die Narben in seinem Rücken brannten bei der Bewegung und seine Muskeln protestierten über sein starres Stillstehen. „Erlaube dir niemals ein vorschnelles Urteil, meine Liebe. Das zeugt nicht von Charakterstärke."

Beleidigt verzog Liv das Gesicht. „Wenn ich schon stundenlang in der Kälte stehen muss, kannst du mir wenigstens etwas über dich erzählen."

„Ich dachte, du hast genug Geschichten über mich gehört", konterte Viggo und wandte seinen Blick von der jungen Frau ab, um stattdessen den Strand im Auge zu behalten. Bisher waren die Fußabdrücke der Seemöwen die einzigen Spuren im Sand, doch bald würde sich das ändern. „Obwohl ich zugegebenermaßen liebend gern über mich selbst spreche, liegt es mir doch fern, dich zu langweilen."

Forget-me-notsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt