Kapitel 59

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Für den Mann, der ihr Leben zerstört hatte, sah Viggo Grimborn ziemlich erbärmlich aus. So erbärmlich sogar, dass Lova Mühe gehabt hatte, ihn zu erkennen.

Seine Gesichtszüge hatten sich kaum verändert, doch das blasse Licht im Inneren der Höhle verlieh ihm schärfere Kanten, die das Kerzenlicht unter dem Schiffsdeck weicher gezeichnet hatte. Eines seiner Augen war hellgrau und blind, während das andere zwar noch immer dunkelbraun, aber von Verwirrung und Schmerz erfüllt war. Das blinde Auge war von Brandnarben umgeben, das zerstörte Gewebe formte eine Kluft aus Bergen und Tälern, zwischen denen sich die Schatten fingen. Bereits dieser Anblick war verstörend, nachdem Lova sich noch an ein unverletztes Gesicht und ein charmantes Lächeln erinnerte, doch damit war es noch nicht genug.

Auf seiner Wange schimmerte ein dunkelblauer Bluterguss, eine seiner Augenbrauen wurde von einem geraden Schnitt geteilt. Die Verletzung begann bereits zu heilen, der Schorf war dunkelrot.

Eine weitere, ausgefranste Wunde, die an den Rändern blutverkrustet war und in der Mitte noch feucht schimmerte, zog sich über seine rechte Gesichtshälfte. Sie setzte an seinem Hals an und hatte sein gesundes Auge nur knapp verfehlt – wie schade. Lova hätte es ihm gegönnt, sein Augenlicht zu verlieren. Nein, nicht nur sein Augenlicht, sein ganzes Leben, genau wie er es mit ihrem getan hatte.

Doch blind oder nicht – es schien, als hätte Viggo tatsächlich einiges einbüßen müssen, seit er sie zu diesem Handel verdammt und von dem Irren in die Küche hatte sperren lassen. Er hatte seine Tunika verloren – dieses schwarze Teil, das Lova von Anfang an wirklich hässlich gefunden hatte – und trug stattdessen nur noch ein ärmelloses, dunkelrotes Hemd. An seinen nackten Armen klebten Blutspritzer, deren Lilastich ihre Herkunft verriet. Drachenblut an einem Drachenjäger, wie passend.

Viggos Gesichtsausdruck hatte jede Überlegenheit verloren. Lova konnte sein Lächeln noch vor sich sehen – dieses charmante, hassenswerte Lächeln, welchem sie Vertrauen geschenkt und welches sie anschließend verraten hatte. Auch seine Stimme, seidenweich und warm, die geschickte Wörter einfädelte und Lova überzeugte, ihm zu glauben, hallte noch in ihren Ohren wieder. Doch sie war sich sicher, dass er nicht mehr so klingen würde, würde er nun mit ihr sprechen.

Stattdessen sah er aus, als wäre etwas in ihm zerbrochen, als hielte er nichts als Scherben in den Händen. Er kniete auf dem Steinboden, die Hand noch immer in ihre Richtung ausgestreckt. Aber sein Blick verriet ihn; Viggo wusste, dass er sie nicht erreichen würde. Seine andere Hand lag auf seiner Wange, tastete über den roten Abdruck, den Lovas Hand hinterlassen hatte. Seine Augen glänzten feucht, doch sie wusste nicht, ob das von dem Gefühlschaos kam oder von dem Schock über ihren Schlag. Was immer es war, Lova dachte unwillkürlich daran, wie sehr dieser Viggo sie spiegelte. Sicher hatte sie genauso ausgesehen – geschockt, panisch, innerlich zerrissen – als man sie fortgezerrt hatte. Wie seine Wachen sie fortgezerrt hatten, nachdem sie seinen Handel angenommen und nicht nur sich, sondern auch ihren Stamm an ihn verkauft hatte.

Und doch wagte er es, sie anzusehen, als wäre er es, der litt.

„Hör auf", fauchte Lova, erkannte ihren eigenen Tonfall kaum wieder. Ihre Stimme war verzerrt von einer Wut, die tief aus ihrem Inneren kam und nach Rache schrie. „Hör auf, mich so anzusehen. Du hast kein Recht dazu."

„Ich...", setzte Viggo an, stockte, brach ab. Sein Blick lag noch immer auf ihr, er wandte sich nicht ab, sondern vertiefte ihn stattdessen, als würde er nach etwas suchen. „Lova, ich kann mir vorstellen, dass du verwirrt bist, aber ich versichere dir..."

Lova.

Der Name wiederholte sich in ihren Ohren, zuerst noch mit Viggos Stimme, danach wurde ein gehässiges, verächtliches Zischen daraus. Ihre Familie, ihre tote Familie, hatte sie so genannt, jeden Tag. Sie war nie Louvisa für sie gewesen, doch das konnte Viggo nicht wissen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 26 ⏰

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