Kapitel 39

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Lova hing kopfüber in den Krallen eines Nadders. Unter ihr spiegelte sich das Mondlicht auf der Meeresoberfläche – und unter ihr bedeutete in diesem Fall so weit weg, dass gelegentlich Wolkenfetzen ihr Gesicht streiften. Vor nicht viel mehr als einer Stunde hatte Lova behauptet, sie hätte keine Höhenangst, doch nun musste sie diese Aussage revidieren. Sie hatte sehr wohl Höhenangst, wenn ihr Leben an einem unberechenbaren Drachen und seiner noch unberechenbareren Reiterin hing. Einen Sturz aus dieser Höhe zu überleben, war unmöglich.

„Setz mich verdammt nochmal wieder am Hafen ab", schrie Lova und warf Astrid einen wütenden Blick zu. Ihre Hand umklammerte die Pfeile in ihrem Köcher so fest, dass sich rote Schwielen in ihre Haut gruben, damit sie ihre neuen Waffen nicht ins Meer fallen ließ. Viggos Schwert hing glücklicherweise sicher an ihrem Gürtel, und auch ihr Bogen blieb an Ort und Stelle. Doch wenn Lova noch länger im vollen Flugtempo eines Tödlichen Nadders hilflos kopfüber hängen musste, konnte sie dasselbe nicht mehr lange über ihren Mageninhalt behaupten.

„Nein." Astrid lehnte sich in ihrem Sattel noch vorn, um den Windwiderstand zu verringern, und trieb ihren Drachen zu noch höheren Geschwindigkeiten an. „Wir landen erst, wenn du redest."

Lova spürte förmlich, wie ihr Magen einen Salto schlug. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus und sie presste sich die Hand auf den Mund, als könnte sie damit die Übelkeit zurückdrängen. „Ich schwöre dir, ich übergebe mich auf deinen kostbaren Drachen, wenn du mich nicht sofort auf dem Boden absetzt."

Astrid verzog angewidert das Gesicht und sah über ihre Schulter, als würde sie abschätzen, wie ernst es Lova mit ihrer Aussage war. Dann stieß die Wikingerin ein frustriertes Schnauben aus und strich ihrem Nadder beruhigend über die Schnauze. „Langsam, Sturmpfeil", murmelte sie mit einem Unterton, der verdeutlichte, wie gern sie Lova einfach ins Meer fallenlassen würde. „Wenn ich dich hinter mir sitzen lasse, wirst du dann reden?"

Kurz war Lova versucht, den Kopf zu schütteln und Astrid ein herausforderndes Grinsen zu schenken, doch die Stimme ihres Verstandes hielt sie zurück. Den überlegenen Part in einer Auseinandersetzung zu reizen, ist niemals eine gute Idee, flüsterte diese und klang dabei ein wenig zu sehr wie Viggo, und bedauerlicherweise ist Astrid in diesem Fall der überlegene Part.

„Meinetwegen", stieß Lova hervor und streckte der blonden jungen Frau auffordernd die Hand entgegen, „Hilf mir hoch und wir reden."

„Schön." Astrids Tonfall verriet, wie zuwider ihr dieser Plan war – doch die Vorstellung, Lova würde sich vor ihr übergeben, war offenbar widerlich genug, dass sie ihre Prinzipien vergaß. Sie beugte sich über den Rücken ihres Nadders und ergriff Lovas ausgestreckte Hand, obwohl der Drache unter ihr widerstrebend krächzte. „Denk nicht einmal daran, mich anzugreifen", fauchte Astrid und klopfte drohend auf das silberne Blatt ihrer Axt. Die Waffe war perfekt poliert, keine einzige Kerbe verunglimpfte das Metall. „Sturmpfeil und ich lassen dich aus dieser Höhe fallen, wenn du es versuchst. Und keiner von uns wird dich auffangen."

Lova warf einen prüfenden Blick auf die Meeresoberfläche, die hunderte Meter unter ihr glänzte, ehe sie ihren Platz hinter Astrid auf dem Drachenrücken einnahm und abwehrend die Hände hob. „Kein Grund für Drohungen", gab sie zurück und spannte ganz automatisch die Muskeln an, die sie brauchte, um sich auf dem Nadder zu halten. Diese Mühen wurden Astrid durch einen maßgeschneiderten Sattel erspart, um den Lova sie ziemlich beneidete. Es blieb nur zu hoffen, dass Astrid die Leichtigkeit nicht bemerkte, mit der Lova dennoch auf dem Drachen saß – zahlreiche Übungsstunden mit Varia hatten ihr eine ansehnliche Oberschenkelmuskulatur beschert. Doch es wäre sehr verdächtig, wenn Lova sich ohne ersichtliche Anstrengung aufrecht halten konnte, also versuchte sie wenigstens, bemüht auszusehen. „Könnten wir ein wenig langsamer fliegen?"

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