Kapitel 20

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 Eiskalte Finger gruben sich so tief in Viggos Haut, dass dunkelblaue Male zurückblieben. Der Südwind pfiff ihm um die Ohren und trug die Kälte des drohenden Winters mit sich. Unter ihm bewegten sich die sehnigen Muskeln eines Drachens, ledrige Schwingen schleuderten bei jedem Wurf Regentropfen durch die Luft und gelegentlich durchbrach ein Donnergrollen die angespannte Stille.

Viggo versuchte, sich aufzusetzen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Es war, als würde ihn eine unsichtbare Macht fesseln und von jeder Regung abhalten. Von seinem Brustkorb ging ein pochender Schmerz aus, im selben Takt wie sein Herzschlag jagte er durch Viggos Körper.

Ihm war, als müsste er wissen, woher diese Schmerzen stammten, doch er konnte es einfach nicht greifen. Als wäre sein Verstand zu benommen, um sich zu erinnern...

Da Viggo zu keiner tatsächlichen Bewegung fähig war, entschied er sich, es langsam anzugehen. Vorher war es ihm nie wie ein Kraftakt vorgekommen, seine Augenlider zu heben, doch er hatte Mühe, diese winzige Regung zustande zu bringen. Zwischen seinem Gehirn, das die Befehle gab, und seinem Körper, der sie ausführte, hatte sich eine meterhohe Mauer aufgebaut. Keine Anweisung drang hindurch, ohne auf dem Weg verzerrt zu werden.

Viggos Lider zuckten, Helligkeit flutete sein Sichtfeld und Kopfschmerzen trieben sich wie Äxte in seinen Schädel. Das gleißende Licht unterband seinen verzweifelten Versuch, und ein raues Stöhnen drang aus seinem wunden Hals. Viggo war buchstäblich bewegungsunfähig.

Kalte, rissige Lippen pressten sich auf seine Stirn, das Klammern der Hände um seine Hüfte wurde fester. „Langsam", murmelte eine heisere Stimme gegen seine Haut. „Das Gift wirkt noch."

Das... Gift? Die Zahnräder in Viggos gelähmten Gehirn ratterten, bis ihm die Lösung förmlich in den Schoss fiel. Der Kampf. Dagurs Männer. Sein Sturz. Der Schnelle Stachel.

„Wo..." Die kleine Silbe hatte tausende Nadelstiche in seiner Kehle zufolge. „... sind wir?"

Die Frau mit der heiseren Stimme (Louvisa?) räusperte sich. „Das weiß ich nicht", gab sie zu. Ihr Schatten beugte sich über ihn, lockige Strähnen strichen über sein Gesicht. „Wir sind fast einen Tag geflogen. Bisher ohne Zwischenfälle."

„Wieso sollte es Zwischenfälle geben?" Viggo versuchte erneut, die Augen zu öffnen. Diesmal gaben seine Lider einen schmalen Spalt frei, der ihm ermöglichte, Lova zu sehen. Der Wind zerrte an ihrem Haar, getrocknetes Blut klebte an ihren Wangen und die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre Haut war bleich, fast heller als Schnee. Nur ihre Augen waren rot, als hätte sie geweint. Doch als sie ihn ansah, lächelte sie.

„Ich weiß nicht", sagte Lova, „Irgendwie finden die Zwischenfälle uns schließlich immer."

„Wenn Dagur uns bisher nicht gefunden hat, wird er das auch nicht mehr tun", entgegnete Viggo. Wie gern hätte er ihr Lächeln erwidert, doch schon das Sprechen fiel ihm schwer. „Ich hätte zu gern gesehen, wie du seine Männer besiegt hast, Liebste."

Die Wirkung des lähmenden Giftes hatte ausreichend nachgelassen, damit Viggo sich mühsam um wenige Zentimeter aufrichten konnte. Direkt neben seinem Ohr schlug Lovas Herz gegen ihre Rippen; viel zu schnell, doch es schlug, und mehr zählte nicht für ihn.

„Tu mir das nie wieder an." Gedämpft drang Lovas Stimme an sein Ohr, als sie die Arme um ihn schlang. „Ich dachte, ich würde dich verlieren."

„Ich bemühe mich nach Kräften, das zu vermeiden." Viggo sog ihren Duft tief ein und Lova lachte erstickt, als seine Atemzüge die weiche Haut ihrer Halsbeuge streiften. Für ihn roch sie nach wilden Blumen und Heimat. „Immerhin wäre mein Tod ein ziemlicher Verlust für das gesamte Inselreich, nicht wahr?"

Forget-me-notsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt