Kapitel 5

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Viggo hätte gern gesagt, dass er am nächsten Morgen zum ersten Mal ausschlief und ohne Schmerzen aufwachte. Tatsächlich wäre beides aber eine Lüge gewesen; die Sonne war gerade erst aufgegangen, sein linker Arm war eingeschlafen und die Narben auf seinem Rücken verursachten ein unangenehmes Brennen. Andererseits war Viggo nie ein Langschläfer gewesen, verglichen mit den letzten Wochen waren seine Schmerzen erträglich und solange Lova die Nacht ohne Albträume verbringen könnte, würde er mehr als einen eingeschlafenen Arm in Kauf nehmen.

Sein Magen knurrte, immerhin hatte er gestern schon das Abendessen ausfallen lassen – frühstücken tat er gar nicht mehr. Wenn Viggo ehrlich mit sich war, aß er nur, um Lovas besorgten Blicken zu entgehen. Bisher hatte er stets das Gefühl gehabt, jeder Bissen bliebe in seiner Kehle stecken. Vermutlich würde es heute nicht anders sein, aber er war bereit, es zu versuchen.

Viggo richtete sich langsam auf, den linken Arm weiterhin um Lovas Hüfte geschlungen, damit sie nicht aus dem recht schmalen Bett fiel. Mit der anderen Hand stützte er sich an der Bettkante ab, um trotz seiner steifen Gliedmaßen auf die Beine zu kommen. Seine Rückenmuskulatur verkrampfte sich und die Schmerzen nahmen zu, aus dem Brennen wurde ein Reißen, als ob jemand seine Sehnen zertrennen würde.

Viggo war das bereits gewohnt, diese Schmerzen fühlte er bei jedem einzelnen Schritt, doch mit Lovas zusätzlichem Gewicht, das ihn zurück auf die Matratze presste, war es eine zusätzliche Herausforderung.

Seine Atemzüge fuhren über ihre Haut, seine Schultern streiften ihre Wangen. Kaum eine Sekunde lag ein leichter Druck auf ihrer Kehle und Viggo hörte , wie sie scharf die Luft einsog. Er wollte sich gerade entschuldigen, seine Lippen teilten sich neben Lovas erhitzter Haut.

In einem Augenblick saß sie neben ihm und sah sich verwirrt um, im nächsten fuhr sie erschrocken vor ihm zurück und riss schützend den Arm vor ihr Gesicht. Mit ihrer freien Hand suchte Lova nach dem Dolch, der früher an ihrem Gürtel gehangen hatte. Wäre er noch an seinem alten Platz, so würde Viggo ziemlich sicher mit aufgeschlitzter Kehle auf den Dielen liegen.

„Fass mich nicht an", presste Lova zwischen aufeinander gepressten Lippen hervor, ihre Brust hob und senkte sich hektisch. Den Blick hatte sie abgewandt, den Kopf in ihrer Armbeuge vor ihm abgeschirmt. Ihre Beine wippten auf und ab und Lovas gesamte Haltung war auf die Verteidigung ausgerichtet, als ob sie Gewalt erwarten würde.

„Louvisa, ich-"

Viggo streckte die Hand nach ihr aus, berührte ihren Ellenbogen.

Lova rückte noch weiter von ihm ab und kniff die Augen zusammen, als würde sie seinen Anblick nicht ertragen. Ihr ganzer Körper bebte vor Panik.

„FASS MICH NICHT AN."

Ihre Stimme war voller Schmerz und schrill vor Angst.

Dieser Klang, genau dieser angsterfüllte Tonfall, weckte Erinnerungen an einen ganz bestimmten Tag auf den Nördlichen Marktinseln. Auch da war Lova so gewesen; desorientiert, panisch, nicht bei Sinnen. Plötzlich wusste Viggo genau, woran sie dachte.

„Lova", versuchte er es erneut, sanfter diesmal. „Alles ist in Ordnung, du bist in Sicherheit. Ich bin bei dir." Viggo wagte keinen weiteren Versuch, sie zu berühren. „Tief einatmen, Liebste. Einatmen, ausatmen."

Lovas Arme sackten zur Seite, als hätte sie nicht die Kraft, sich aufrechtzuerhalten. Ihre Atem ging stoßweise und es war eindeutig, dass Viggos Worte nichts ausrichten konnte. Sie hyperventilierte, ihr ganzer Körper zitterte.

„Hör mir zu", sagte Viggo leise. „Du bist nicht mehr bei den Jägern. Du bist bei den Beschützern und ich bin bei dir. Du musst nur tief atmen, in Ordnung? Ganz langsam, einatmen und ausatmen." Er atmete im vorgegebenen Takt und Lovas Blick zuckte zu seiner Brust. Sie folgte seinen Bewegungen, die grauen Augen verschleiert vor Panik. Viggo war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt erkannte. „Ein", murmelte er. „Und aus."

Forget-me-notsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt